Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 100

Stefan George Der erste Kuss (Levetzow, Freiherr Carl vonPilar, Ivo)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 100

Text

PILAR: DER ERSTE KUSS.

Dann öffnen sich die Thore ihrer blüten-
schweren Gärten; und wenn wir mit be-
fremdeten Schritten eintreten, scheinen
uns die gedämpften Farben schwächend
und eintönig, die tausend schillernden
Wohlgerüche einschläfernd, ungesund und
betäubend, die vielfach verschlungenen
Wege wirr, gekünstelt, labyrinthisch. Wir
sehen nicht, dass jeder Duft, jede Farbe,
jede Biegung anders ist und einen tiefen
Sinn und Bezug hat für den Herrn des
Gartens — und den der sein Freund ist.
Wir müssten uns erst hineingewöhnen,
uns orientieren. — Das wollen viele
nicht, die meisten können es nicht. So
kehren sie schon beim ersten Schritte um,
womöglich noch mit einem ganz unbe-
rechtigten Fluch auf den Lippen. Unbe-
rechtigt, denn es hat uns ja niemand
hineingenöthigt wie vor einer Praterbude.

Wenn sie ihre Thore öffnen, so soll
es ja eine Güte sein, ein liebliches Ge-
schenk für jene Stunden, wo wir ihnen
ähnlich sind. Unsere Gegengabe sei ein
freundliches Verweilen, ein lächelnder

Dank. Man soll nicht mürrisch Achsel-
zucken, wenn Epheben Kränze reichen.

So empfinde ich Stefan George. Er
reisst die Menschheit nicht zu neuen Ge-
dankenpunkten, er sagt uns keine Er-
lösungen, er gibt uns keine neuen Werte.
Er ist wie ein prächtiger Wanderstern,
der an unserer Welt leuchtend vorbeifliegt.
Wir sehen ihn kommen und aufflammen,
wir sehen ihn verglühen und weiterziehen.
Wir blicken von unserem Werke auf, und
schauen ein farbig flammendes Zeichen
aus anderen Sphären. Aber es zieht weiter
und lässt uns nichts zurück. Es erhellt
nicht unsere Weltnächte, es bringt keine
Änderung in unsere Erdbahn, keinen
Wechsel in die Wundergabe unserer Jahres-
zeiten. Es kommt nur und geht; es zeigt
sich — und verschwindet: aber wir können
ihm einen Blick schenken und ein
Bewundern — und dann schaffen wir
freudig weiter an unserer Arbeit!

Mir hat Stefan George doch einen Wert
zurückgelassen: auch diese Künstler zu
begreifen — und vielleicht zu lieben.


DER ERSTE KUSS.
Von IVO PILAR (Agram).

Wir waren allein im dunklen Zimmer,
sie und ich.

Sie war noch ein halbes Kind, eine
noch nicht geöffnete Blüte, welche ihre
zusammengerollten Kelchblätter erst kaum
aufrollt, leicht aufgeschossen im kargen
Sonnenlicht und wenig Wärme, weiss,
unberührt und frisch.

Es umwob sie nicht der heisse und
berauschende Duft der weiblichen Seele.
Ihre Wangen waren nicht sammtartig und
heiss, wie beim Weibe, sondern glatt und
kalt wie Eis, frisch wie beim Kinde.

Aus dem Nebenzimmer drangen Töne
einer geräuschvollen Unterhaltung, fiel ein
schiefer scharf gezeichneter Lichtstrahl,
der sich in einer Zimmerecke zersplitterte
und verlor. Es war, als dränge sich der
Rausch des Lebens in das Dunkel, und
schwängere es

Das Gespräch stockte — wir schwiegen.
Über den ruhigen Seespiegel unserer

Seelen strich ein sonderbarer Wind, und
die See gieng bald hoch. Ein ungeahntes,
beängstigend grosses Gefühl regte sich in
unserem Innern, stieg und schwoll an,
als wenn es den Busen sprengen wollte,
erhob sich wogend bis zur Kehle, schnürte
sie zusammen, und das Wort erstarb auf
den Lippen

Es herrschte Schweigen — ein deli-
ciöses Schweigen. Jeder lebte sein inneres
Leben, und horchte den Tönen, die in
ihm erklangen; horchte dem Getöse der
Brandung, die sich an einem unbekannten
Gestade unserer Seelen brach. Die Lippen
schwiegen, die Seelen jedoch erhoben sich
furchtsam und bedächtig aus den ver-
borgenen Höhlen ihrer Ewigkeit, neigten
sich zu einander, und flüsterten sich die
grossen Geheimnisse unseres Lebens zu,
die wir nicht fassen

Völlig unbewusst waren wir einander
nahegerückt. Wir fühlten unseren Athem

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 100, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-04_n0100.html)