Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 101

Text

PILAR: DER ERSTE KUSS.

Es war, als ob unsere Seelen uns be-
fehlen würden, sich zu nähern, auf dass
das leise Sausen unseres Athems ihre
einzig hörbare Sprache sei. Unter dem
wirbelnden Hauche unseres beschleunigten
Odems erzitterten ihre krausen Stirnlocken,
die gleich einer durchsichtigen Aureole ihr
Gesichtchen umgaben. Die Locken be-
rührten und kitzelten mich kosend an der
Wange, an den Augenlidern, an der
Stirne. Und dann —

Dann ergriff mich ein übermächtiges
Gefühl

Der grosse Lebensstrom durchsetzte
uns mit seiner ganzen gewaltigen, un-
erbittlichen Kraft. Unbewusst, fast re-
flectorisch umfiengen meine Arme ihren
schlanken Leib. Ich zog sie an mich.
Doch die furchtsamere Mädchenseele er-
schauerte unter der kräftigen Berührung,
erschrak vor der Nähe des Lebens-
geheimnisses, und wollte sich zurückziehen
in ihre unberührte, ewige Verborgenheit.

Sie stemmte sich mit den Händen,
und wendete das Gesichtchen ab

Doch nur für einen Augenblick.
Kaum hatten meine Lippen ihre kühlen
Wangen berührt, schlossen sich ihre
Augen, und ihre Lippen kamen den
meinigen entgegen, unwillkürlich und
langsam, aber sicher und unaufhaltsam,
als ob sie einer höheren Macht gehorchten.
Meine Lippen glitten dabei über ihr glattes
und eisiges Gesichtchen, wie ein Schlitten
über eine endlose, weisse, schneeige
Ebene

Und unsere Lippen fanden sich!

Durch die aneinander gepressten Lippen
schauerte der Lebensstrom herüber und
hinüber, der Urstrom rein und klar, ohne
niedrige Begierde, und über uns, in den
Höhen, erklang der grosse Hymnus des
Lebens, von unseren Seelen gesungen,
gleich einem Donnergetöse zweier reissen-
der Bergströme, die ineinander stürzen
unter betäubendem Gebrause. Es ver-
hallt darin das Bewusstsein und alle
übrigen Empfindungen des Lebens
Wir standen am Rande der Ewigkeit,
blickten hinüber in ihre unbegrenzten
Räume, und ahnten etwas davon.

In uns aber wogte immerfort der
grosse Strom, immer gewaltiger, als wollte
er seine Dämme durchbrechen; er wuchs

bis ins Unendliche — wuchs, bis er
durch seine eigene Überkraft seine Quellen
verstopfte.

Der Lebensstrom war zerrissen.

Unsere Lippen trennten sich.

Noch ein letzter mächtiger Schauer
durch den ganzen Körper; noch einmal
gleitet meine Hand über die ihrige, noch
ein Funke des zerrissenen Stromes

Ihre Augen öffneten sich und blickten
leer, verwundert und furchtsam um sich,
als ob sie die Wirklichkeit nicht zu fassen
vermöchten. Sie waren noch voll von
Geheimnissen — aus jener anderen
Welt

Dann wendete sie sich ab, und schritt
langsam zum offenen Fenster, wie magisch
angezogen vom matten Reflex der Strassen-
lichter, der ins Zimmer brach. Sie beugte
sich hinaus und blickte von der Höhe
hinab auf das Spiel der Strassenlichter,
auf das Treiben und Wogen der Menschen,
als ob sie dort die Lösung des Räthsels
suchte, das sie am Rande der Ewigkeit
erblickte.

Ich blieb einen Augenblick wie fest-
gebannt, in einem taumelnden Rausche,
bewusstlos ins Dunkel starrend, als hätte
ich die Seele verloren. Doch sie war nur
müde und erholte sich.

In mir erzitterten die letzten Vibra-
tionen jenes Grossen, das mich durch-
schauerte. Und ich bemühte mich sie fest-
zuhalten; sehnsüchtig versuchte ich ihre
schwindende Wonne noch einmal durch-
zukosten Und als das letzte Beben
vorüber war, und in meiner Seele Ruhe
wurde, suchte ich sie mit den Augen

Sie lehnte noch immer am Fenster,
und sah von der Höhe herab auf das
Spiel der Strassenlichter, auf das Treiben
und Wogen der Menschen. Ich trat zu
ihr hin, lehnte mich neben sie und be-
trachtete ihr feines Profil.

Ich erwartete ihren Blick

Doch sie sah mich nicht an, sondern
senkte das Köpfchen noch tiefer

Nun wusste ich, dass es ihr erster
Kuss
war.

Und ich dünkte mich gross wie ein
Gott, denn ich wusste, dass ich erhalten,
was so viele Männer im Leben nie er-
halten oder nie erkannt haben: den ersten
Kuss
eines Mädchens

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 101, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-04_n0101.html)