Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 102

Über das Interessante im Bösen (Forts. und Schluss) (Rubinstein, Dr. Susanna)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 102

Text

RUBINSTEIN: ÜBER DAS INTERESSANTE IM BÖSEN. ÜBER DAS INTERESSANTE IM BÖSEN.
Von Dr. SUSANNA RUBINSTEIN (München).

(Fortsetzung und Schluss.)

An der ausgiebigen Quelle, der von
der Kirche unter der Standarte der Liebe
verübten Grausamkeitsacte geht man am
liebsten mit abgewandtem Blick vorüber;
doch kann deswegen nicht verkannt werden,
dass in der mittelalterlichen Atmosphäre
der frommen Greuel sich auch die Lust
an den heftigen Emotionen dieser Acte
entwickelt hat. So soll der Grossinquisitor
Peter v. Arbuez ein richtiges Wohlgefallen
am Brandgeruche der Ketzer empfunden
haben. Und so fasste ihn auch W. v. Kaul-
bach in seiner Darstellung auf. Von der
Königin Isabella der Katholischen wird
berichtet, dass als sich einmal von einem
Schub für ein Autodafé ein 15jähriges,
wunderbar schönes Judenmädchen losriss
und vor ihr händeringend um das Leben
flehte, habe die fromme Herrscherin mit
weithin schallender Stimme gerufen: »Fort
mit ihr ins Feuer!« Die Königin war
dabei nicht allein von heiligem Eifer,
sondern auch vom Verlangen getrieben,
sich ihr Plaisir nicht schmälern zu lassen.

Eine weitere Epoche, in der das
Dämonenthum im Menschen zu hohem
Flor kam, ist die der Renaissance. Der
Dämon, der jetzt auf dem Plan erscheint,
hat eine interessantere und respectablere
Physiognomie als in den vorigen Zeit-
räumen. Seine Bösartigkeit ist nämlich
nicht Selbstzweck, sondern Mittelzweck,
und sie richtet sich auch nicht wie in den
angeführten Epochen gegen Ohnmächtige
und Widerstandsunfähige, sondern sie steht
auf Du und Du mit ihren Opfern. Die
Greuel der Renaissance sind im Massver-
hältnis zu ihren übrigen gesteigerten Seelen-
gebieten das gesteigerte parasistische Böse.
Diese Zeit, in der alle kleinen italienischen
Höfe sich aus der kirchenpolitischen
Zwangsjacke zu autonomer Stellung ent-
wanden, und in der die ausgegrabene
antike Cultur das Leben farbenprächtig
bereicherte, war bekanntlich eine Zeit, in

der die inneren Gegensätze hohe Wogen
trieben; eine Zeit, wo Blutdurst und Weih-
rauch, Martergestöhn und gelehrte Dis-
putationen die Luft erfüllten. Die gewaltigen
Renaissance-Menschen waren zu gebildet,
um blutige Schaugepränge zu veranstalten,
aber sie scheuten vor keinem Greuel
zurück, der zur Befriedigung eines Gelüstes
führen konnte. So schaffte Bernando Borano
von Camerino, der sich mit Dichtern und
Gelehrten umgab, seine beiden Brüder aus
der Welt, um deren Erbe seinen zwei
Söhnen zuzuwenden. Die Frauen der
Renaissance, die an Gründlichkeit des
Wissens wie an Individualitätsbewusstsein
den Männern nicht nachstanden, thaten
es ihnen auch gleich an freier Lebens-
führung und blutiger Härte. Und die zarten
Hände, die zu glutvoll duftigen Gesängen
in die Laute griffen, konnten auch kraft-
voll den Dolch führen. So hat die glänzende
Caterina Sforza an den Mördern ihres
Gatten eigenhändig die Blutrache voll-
zogen.

Die Renaissance-Menschen, die heftigen
Willen zum Leben an den Tag legten und
die des Lebens Gunst und Gaben mit
frischen starken Zügen in sich aufnahmen,
bethätigten in entsprechendem Grade den
Parasitismus, dessen Absicht durchaus nicht
das Leiden, doch dessen Parole das »Ote-toi
de là que je m’y mette
« ist. Das schliesst
aber auch in sich, dass der Parasist von
seinen Trieben und Begierden beherrscht
und geknechtet ist. Er bleibt immer in
seiner Selbstheit befangen; und wie ein
Kranker von seinen Leidenszuständen ist
er von seinen Trieben und Gelüsten, von
Neid, Genuss- und Gewinnsucht und
Streberei etc. abhängig. Da aber die er-
finderischen Mittel, die er für dieselben
aufwendet, erregend in den allgemeinen
Strom eindringen, so ist er trotz seines
engen Gesichtskreises ein interessanter
Weltmotor.* Der echte und ganze Mensch

* Dass das Böse, wie bereits bemerkt (Nr. 2), auch der Motor des Guten ist, behauptet
Mandsley (Physiologie und Pathologie der Seele, p. 296) ebenfalls. Er sagt, dass der Mensch
»durch das Böse zur Erkenntnis des Guten kommt«, und »das Böse ist das Gute in der Ent-
stehung« — soll wohl sagen: bewirkt die Entstehung des Guten.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 102, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-04_n0102.html)