Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 103

Über das Interessante im Bösen (Forts. und Schluss) »Frauen« von Dodd Georges Rodenbach (Rubinstein, Dr. SusannaLevetzow, Freiherr Carl vonR.)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 103

Text

RUNDSCHAU.

ist aber der sittlich gute Mutualist. Denn
nur dieser (der Edle ist eine ideale Aus-
nahmserscheinung) zeigt sich von der di-
gnitären Aufgabe eines vernunftbegabten
Wesens erfüllt, und daher tritt er unent-
wegt ein, um an der humanistischen För-
derung und der sittlichen Ordnung des
Weltprocesses mitzuwirken. Durch seinen
weiten objectiven Blick wird die Macht
der persönlichen Interessen abgeschwächt
und so weit, als sich die Vernunft aus
den subjectivistischen Naturbanden heraus-
hebt, d. h. so weit als die denkende und
begriffsbildende Sphäre über die sinnlich-
selbstische überwiegt, so weit ist der Mensch
innerlich frei; der Grad der Freiheit hängt

mithin von der Zahl der beherrschten Vor-
stellungen ab. Der sittlich mutualistische
Mensch ist daher in sich weit freier als der
von seinen Drängnissen gezerrte parasitische.

Dadurch ist der sittliche Mensch auch
der ästhetisch fühlende Mensch, da seine
Verschmelzung von Natur und Freiheit
diese harmonische Verfassung des Innen-
reichs begründet, aus der die Empfänglich-
keit für das Schöne herauswächst.

Der Widerstreit der Gegensätze von
gut und bös, die aus der Menschennatur
in Weltprocess eingehen, veranlasste schon
König David zu dem tiefsinnig schönen
Wort: »Wie wunderbar und wie fürchter-
lich sind wir gemacht!«


RUNDSCHAU.

R. Des Georges Rodenbach
sei gedacht, welcher in diesen Tagen
hingegangen ist. Obgleich er die voll-
endetsten Gedichte in französischer
Sprache erdacht hat, ist es nicht richtig,
in ihm einen Franzosen zu sehen. Viel-
mehr hat das niederdeutsche Volksthum
in höchst günstiger Mischung mit gäli-
schem und latinischem Blute in Flandern
ein Geschlecht erzeugt, welches, gleich
dem Judenthume, eine höchst entwickelte
Art der heute Europa bewohnenden
Menschen darstellt. Dieses Geschlecht
hat eine hohe Stufe der geistigen Er-
regbarkeit erreicht, die es ihm ermöglicht,
ohne Vermittlung der vom Willen ab-
hängigen Kräfte aus den empfangenden
Nervencentren geradeaus seine Werke
erstehen zu lassen. Die Meisterschaft
in der Handhabung der inneren Werk-
zeuge ist es, die die Stücke des
Maeterlinck und die Bildwerke des
Fernand Khnopff ermöglicht hat.
Georges Rodenbach kann man diesen
Namen nicht an die Seite stellen, wenn-
gleich auch seine Gedichte — man lese
nur die prachtvollen »processions« —
die kennzeichnenden Eigenschaften
dieser Künstler aufweisen. Es gibt ein
Bild von Levi-Dhurmer, welches vorne
das aufs äusserste durchseelte Antlitz
des Rodenbach zeigt, im Hintergrunde

aber die alten Häuser von Brügge,
deren jedwedes ein Kunstwerk ist. Und
in der That erblühte der Adel dieses
Geistes aus den Traditionen eines uralten
Culturbodens, der ihm die nothwendigen
Voraussetzungen zur Ausübung und
Weiterentwicklung seiner Kräfte bot.
Dies mögen jene bedenken, welche in
deutscher Zunge Ähnliches zu erreichen
suchen.

BÜCHER.

Frauen. Novellen von Dodd, bei
E. Pierson. — Künstlerisch ist in diesem
Buche wohl nicht eine Zeile. Überall, wo
die Verfasserin gestalten will, erweist sich
ihr ganz kindisches Unvermögen. Aber
alles Psychologische ist von hoher Be-
deutsamkeit und gewährt auch einen
seltenen Reiz. Diese »Novellen« sind näm-
lich lange nicht so verlogen, principiell
verlogen, wie so viele andere Frauen-
bücher, die die verschiedenen Herren-
rechtsprätensionen der Männer bekämpfen
(z. B. jus primae noctis). Es enthält nur
zahllose Selbstlügen. Da es aber so gar
nicht künstlerisch ist, sondern reine auf-
gelegte Autopsychologie, so gibt es den
Reiz unmittelbarer Beobachtung. Nicht
Dodd zerlegt fingierte Personen, wie dies
sonst psychiologisierende Autoren thun,
— Dodd legt sich selbst auf den Tisch

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 103, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-04_n0103.html)