Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 116

Adam Mickiewicz James Ensor (Menkes, HermannMauclair, Camille)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 116

Text

MAUCLAIR: JAMES ENSOR.

mitten in der That und buchstäblich auf
dem Schlachtfelde.

Noch ist der Inhalt seines Lebenswerkes
nicht ganz ausgestreut, noch ist seine Saat
nicht ganz aufgegangen und vielleicht wird
sie auch niemals ganz aufgehen. Vielfach
sind auch seine Quellen verschüttet worden.
Aber auch so kann innerhalb seiner Nation
jeder sich rühmen, ein Goldstück von ihm
empfangen zu haben. Er hat die polnische
Sprache verjüngt; er, der der Heimat

fernbleiben musste, hatte den Gefühlen der
Nation eine sichere Heimat gegeben und
eine neue Jugend. Hätte Mickiewicz in
einem glücklicheren Zeitabschnitte gelebt,
seine dichterische Ernte wäre dann eine
grössere gewesen und vielleicht hätte er
in seiner Totalität Gemeingut der Welt
werden können; aber er hatte seinem
Volke opfern müssen und deshalb selbst
sein Gold getrübt. Uns bleibt nur ein Bruch-
theil seines Lebenswerkes, er selbst aber
wirkt als eine der grössten und tragischesten
Erscheinungen der Literatur.


JAMES ENSOR.
Von CAMILLE MAUCLAIR.

Ich hörte den Namen James Ensor
zum erstenmale im Jahre 1893. Ich hatte
soeben mit Emile Verhaeren eine Samm-
lung Rops durchblättert. Wir kamen aus
dem Laden des Verlegers Edmund Denan,
der sich damals noch in der Arenberg-
strasse in Brüssel befand. Wir giengen
in der Richtung nach St.- Gudule, als eine
Zeichnung in einem Schaufenster unseren
Blick fesselte. Zwischen Kupferstichen und
einer Wirrnis bunter Anschlagzettel fast
verloren, hätte sie wohl kaum unsere
Aufmerksamkeit erregt, wenn ihr nicht
gerade der discrete Ton von matter Elfen-
beinfarbe, die eigenthümliche Durchsich-
tigkeit dieses undefinierbare Etwas ver-
liehen hätte, welches den Liebhaber von
weitem anspricht und ihn versichert, dass
sich das Werk eines Künstlers vor ihm
befindet.

Es war ein Stahlstich, der eine Kathe-
drale darstellte, um deren Fuss sich eine
bewegte, lärmende Menge drängt, die
durch den streng geordneten Zug einiger
Regimenter in Parade zurückgestossen
wird. Die unerhörte Genauigkeit der Ein-
zelheiten und die kaum glaubliche Feinheit
der Kupferätzungen störten nicht im min-
desten den gross angelegten Stil, die
Wirkung der Schatten, die reiche und
gleichzeitig carrikierende Ausführung dieses
durch eine karge und starke Farben-

wirkung in Weiss und Schwarz staunens-
wert beleuchteten Bildes. Der matt gelb-
liche, etwas fahle Ton des Abzugs war
entzückend.

»Das ist nicht von Rops,« sagte ich
überrascht zu Verhaeren, »aber es ist nicht
weniger bemerkenswert, wenn auch in
anderer Weise. Als ich die herrliche Serie,
die uns Denan zeigte, verliess, dachte ich
kaum, dass ich ein Blatt finden würde,
das mit jenen vergleichbar wäre. Wer
mag jener Künstler sein, den ich nicht
kenne, und der seines Stils und seiner
Idee so sicher ist?«

»Ich bin entzückt,« antwortete mir
Verhaeren, »der erste zu sein, der Dich
mit James Ensor und seinem Werke be-
kannt macht. Er hat wirklich bedeutendes
Talent, ich werde Dir davon erzählen.« —

Er »erzählte« mir dann. Aber den
Künstler lernte ich erst nachher kennen. Bei
einem späteren Aufenthalt trat ich mit
einem grossen, blassen, jungen Manne mit
gedankenvoller Stirn und sammtenen, trau-
rigen Augen in Verkehr. Sein vornehmes,
herablassend sanftes und schweigsames
Wesen kann, so glaube ich, jeden Mann
von echter geistiger Bildung nur ein-
nehmen. James Ensor hat die verschleierte
höfliche Ironie eines Gentleman und eine
selten zu findende Ruhe, in der alles ent-
halten ist: spanischer Stolz und englisches

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 116, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-05_n0116.html)