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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 117

Text

MAUCLAIR: JAMES ENSOR.

Phlegma und jenes verlorene Wesen, das
das Träumen mit sich bringt. Seine
Freunde erzählten mir, dass er zurück-
gezogen in Ostende lebe, sich fast nie-
manden anvertraue und seine der höchsten
Achtung würdige Natur eher errathen lasse,
als dass er sie zu erkennen gäbe. Ich ver-
glich diese Charakterzüge sofort mit dieser
nervösen und müden Adlerphysiognomie,
wo die Feinfühligkeit und die Zurück-
haltung sich stumm mit gleicher Heftigkeit
bekämpfen.

Mittlerweile hatte ich andere Werke
Ensors in einem befreundeten Hause ge-
sehen. Es waren einige Ölbilder sehr ausser-
gewöhnlicher Manier, gleichzeitig tief und
massig in der Art der Farbenmischung
und sehr leicht durch die besondere Fein-
heit der Wirkungen. Das Ganze verrieth
einen Coloristen, der zur Hallucination des
schönen Tones neigt. Es waren Gruppen
von abscheulich ausdrucksvollen Masken,
orangefarben, nilgrün, granatroth, safran-
gelb gekleidet, mit einem immer glücklich ge-
wählten, unmittelbarem Farbenübergang —
oder die schöne Skizze in Grau, Mattroth
und Schwarz eines Intérieur oder Stilleben
von wunderbarer Wärme, endlich das
Selbstporträt des Künstlers in Kohle aus-
geführt, wenn ich mich recht entsinne. —
Ich hatte bei Emilie Verhaeren ein eigen-
thümlich kleines, trockenes Bildnis gesehen.
Man hat mir auch von anderen Arbeiten
Ensors gesprochen, die bei den Kunst-
liebhabern in Brüssel verstreut sind, die ich
aber noch nicht zu Gesicht bekommen
konnte. Daher begnüge ich mich, hier
einige Eindrücke über eine Serie Stahlstiche
zusammenzufassen, welche man mir zu
dieser Zeit vorlegte; sie haben genügt, mir
von dem Talente James Ensors eine Meinung
zu geben, die ich von dem aufgeklärten
Publicum gerne getheilt wissen möchte.

Die Motive, die den Geist des Künstlers
beschäftigt haben, als er die schon jetzt
bedeutende Anzahl seiner Werke schuf,
lassen sich leicht in zwei Kategorien theilen:
Die eine, die der phantastischen Visionen,
die andere, die der Landschafts- und Meer-
bilder. Vor allem bemerke ich in Bezug
auf die erste Richtung seine Frequenz bei
den Stahlstechern. Sie haben alle einen
gewissen unbestimmten Willen zu Bizarrem
und zu Launen. Man möchte sagen, dass

ihre scharf ätzende Kunst, die wie mit
Krallen arbeitet, ihnen manchmal Lust
gibt, gleich Katzen zu spielen, oder auf
der glatten Platte die vagen und lustigen
Arabesken des Eisläufers zu beschreiben; das
bestimmte Linienführen des Stahlstechens
hat an und für sich etwas Scharfes. Viel-
leicht erkläre ich hiedurch diese Neigung
aller Stecher nicht gut? Es ist Thatsache,
dass sie allgemein ist, und Ensor ist davon
nicht ausgenommen. Er hat nebstbei noch
die Charakteristik der flandrischen Kunst,
der echten Race: eine Mischung von
Groteskem und Geisterhaftem, die sich
zu Detailmalerei — Realismuus verbindet.
In seinen humoristischen Platten sind, nach
meiner Meinung, etwas zu viel Schädel
und Gerippe und eine zu Molierè’sche
Komik, die man als »das Abstossende als
Ausgangspunkt des Komischen« bezeichnen
könnte. Nicht, dass ich mich darüber entsetze,
aber ein Werk von James Ensor könnte so das
Entzücken der Gaffer werden, die nicht
verstehen, dass es auf alle Fälle wahre
Kunst in origineller Ausführung offenbart.
Ich werde stets diesem Genre von guter
Laune, dem Ensor sehr überlegen ist,
entgegentreten. Aber man muss das
Komisch - Wirkende in der Grundidee
dieser Werke feststellen. Bei dem Durch-
einander von Ungeheuern, Dämonen, un-
qualificierbaren Thieren, die Ensor in
lebhafter und staunenswerter Weise unter
der Wirrnis von Personen anhäuft, wird
einem die Erinnerung an Jerôme Bosch
förmlich aufgedrängt. »Le Triomphe de
la Mort
« ist diesbezüglich bemerkens-
wert. Manchmal denkt man auch vorüber-
gehend der Japaner, besonders des Hokusai:
»Les Sorciers emportés par un coup de
vent
« und besonders »Le mauvais Rêve«,
dessen wenige, kühne, mit fieberhafter
Meisterschaft hingeworfenen Striche so
geheimnisvoll das Unaussprechliche der in
der Letargie gesehenen Formen oberhalb
der Skizze eines schlafenden, convulsiv
verkrampften Körpers zum Ausdruck
bringen, eine Arbeit, die mit wunderbarer
Synthese gemacht ist. In der so fesselnden
Platte der »Joueurs« und in der blen-
denden Skizze »Lazare« zeigt James
Ensor einen Sinn für die Caricatur, wobei
er die Gesichter der grotesken Personen
mit gleicher Schärfe zu ätzen scheint,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 117, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-05_n0117.html)