Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 120

Die Krise des Anarchismus (Schmitt, Dr. Eugen Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 120

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DIE KRISE DES ANARCHISMUS.
Von Dr. EUGEN HEINRICH SCHMITT (Budapest).

Es ist noch in lebhafter Erinnerung, dass
mit Ende der Siebziger-Jahre der Anarchis-
mus in Österreich aufblühte, um dann in der
nun folgenden Reaction wieder niederzu-
gehen. Ein ähnliches Aufflammen und spä-
teres mehr oder weniger schnelles Nieder-
gehen derselben Strömung ist auch in
anderen Ländern Europas, sowie auch in
Amerika eingetreten. Die Einzelheiten dieser
Processe mögen den geschichtlichen Special-
forscher interessieren und können hier
schon deswegen nicht Raum finden, weil
eine klare Darstellung ihres Verlaufes zu
einer geschichtlichen Monographie des
Anarchismus führen müsste. Es genüge
hier der Hinweis, dass in den meisten
dieser Länder die anarchistische Bewegung
vollständig aufgehört hat, Massenbewegung
zu sein und sich auf engere Gruppen
beschränkt, die auch als solche noch oft
einen schweren Kampf um die Existenz
führen. Und doch blickt die ganze übrige
Welt mit Spannung und zum grossen
Theile mit Grauen auf jene kleinen Gruppen,
die, das fühlt man, in vollendeten Gegen-
satz treten mit allen Parteien dieser Welt.
Es wäre oberflächlich, diese Würdigung
des Anarchismus allein oder auch nur
vornehmlich den Attentaten zuzuschreiben,
mit welchen Anhänger oder angebliche
Anhänger der Partei von Zeit zu Zeit
diese Welt aus dem ruhigen Tempo ihres
Entwicklungsganges für kurze Zeit auf-
schrecken. Attentate sind nichts für den
Anarchismus Charakteristisches. Attentate
wurden durch Liberale, wie Charlotte
Corday oder Orsini, ebenso begangen, wie
seinerzeit durch Jesuiten oder durch Feudal-
herren. Was hier das Entsetzen wach-
ruft, ist etwas ganz anderes. Unser Ziel
in dieser Abhandlung ist daher eben, die
eigentliche Bedeutung dieser Bewegung
und die Ursache klarzulegen, welche ihren
Niedergang in der heute gegebenen Form
nothwendig macht, sowie auch warum

trotzdem die umgebende Welt nicht etwas
dem Wesen nach Halbvergangenes in der
niedergegangenen Bewegung sieht, sondern
etwas ganz Actuelles und das Bestehende
auch in die Zukunft hinein ernstlich
Bedrohendes.

Wenn nun die Attentate durchaus
nicht geeignet sind, die eigentümliche
Bedeutung des Anarchismus zu erklären,
die ihm nicht bloss die zu kleinen Häuflein
zusammengeschmolzenen und doch sieges-
gewiss in die Zukunft blickenden Anhänger
ebenso wie die in ungeheurer Masse mit
geheimem Schauer und Bangen ihnen
gegenüber stehende Welt (man kann ruhig
sagen, bis auf jene Häuflein die ganze
bestehende Welt) zuschreibt, so sind die
Attentate oder allgemeiner das revolutionäre
Gewaltprincip überhaupt in der That die
Ursache des Niederganges des Anarchismus
in seiner gegenwärtigen Gestalt. Und auch
nicht etwa deswegen, weil die Staats-
gewalt mit allen Mitteln, die ihr zu Gebote
stehen, die gewaltsame Zerstörung der
Bewegung oder Secte sich zum Ziele
gesetzt hat, denn gewaltthätige Verfolgung
von Ideen hat dort, wo die Verhältnisse
nur einigermassen gereift sind, direct
immer nur eine Steigerung der Intensität
und Klärung der Idee und bei der grau-
samsten Zersprengung der Elemente nur
eine Verbreitung des Infectionsstoffes durch
Zerstreuung der Anhänger und durch die
Monstrereclame, die mit der öffentlichen
Verfolgung sich unaufhaltsam verbindet,
indirect stets nur ein Anschwellen der
Bewegung zum Resultate gehabt. Zer-
störend aber haben die Attentate und das
Gewaltrevolutionsprincip überhaupt auf die
Anarchie aus dem Grunde gewirkt, weil,
und dies mag für viele Leser überraschend
klingen, Attentate und Gewaltthaten über-
haupt im allgemeinen nicht im wurzelhaf-
ten, grundsätzlichen Widerspruche stehen
mit all den anderen Parteien, die sich dem

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 120, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-05_n0120.html)