Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 121

Die Krise des Anarchismus (Schmitt, Dr. Eugen Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 121

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SCHMITT: DIE KRISE DES ANARCHISMUS.

Anarchismus entgegen stellen, aber in
unheilbarem und unheilvollem inneren
Widerspruche stehen zu dem Grund-
gedanken eben, mit welchem der An-
archismus der ganzen bestehenden Welt
entgegen tritt. Und sollte der Anarchismus,
was wir nach tiefgehender Betrachtung
der Gegenwart sowohl als auch der
Geschichte nicht voraussetzen können —
zugrunde gehen, so wäre es einzig und
allein das im organischen Widerspruche
mit seinem Grundgedanken stehende
Gewaltprincip, welches ihn zugrunde
richten könnte. Gewaltacte von Anarchisten
sind nur ganz nebensächlich Mordversuche
an einzelnen wirklichen oder angeblichen
Feinden des Anarchismus, sie sind in
erster Linie und ganz wesentlich sozusagen
Selbstmordversuche eines in sich unreifen
und ungeklärten Anarchismus.

Die Begründung des eben Gesagten
ist eine sehr einfache. Der Liberalismus
oder sonst irgend eine Partei kann aus
dem Grunde, ohne wesentlichen mora-
lischen Schaden zu erleiden, ohne ein
Werk der inneren Selbstzerstörung zu voll-
bringen, am Beginne der Bewegung dem
Principe durch Attentate und Gewaltrevo-
lutionsacte in der Welt Geltung verschaffen,
ihm mit Blut und Eisen zum Siege ver-
helfen, und diesen seinen blutigen und
nach rein sittlichen Begriffen verbreche-
rischen Anfang und seine Helden, die
Attentäter und Gewaltrevolutionäre, dann
unbefangen und naiv mit sozusagen gutem
Gewissen feiern, weil die Ordnung, welche
diese Parteien schaffen wollen und ge-
schaffen haben, in der Wurzel nichts sein
will als eine Ordnung, deren Garantien
wieder auf der Gewalt und dem öffent-
lichen Zwange überhaupt beruhen und in
gewissen, im Gesetze dann näher be-
stimmten Fällen vorsätzliche Menschen-
tödtung, Fesselung, physische Vergewalti-
gung verschiedenster Art überhaupt heiligen,
ja gebieten, unter Umständen für ehren-
voll und ruhmreich erklären. Will nun
aber der Anarchismus überhaupt Sinn
haben, will seine sittliche Entrüstung, mit
der er sich der bisherigen Welt entgegen-
stellt, keine hohle Phrase und Komödie
sein, will sein ganzes Pathos, das Princip,
auf welches er pocht, sich nicht überhaupt
wie Schaum auflösen, so muss seine offene

oder stillschweigende Voraussetzung sein,
dass der körperliche Zwang dem zu-
rechnungsfähigen, also im gesunden Voll-
bewusstsein seiner Persönlichkeit befind-
lichen Menschen gegenüber etwas schlecht-
hin Menschenunwürdiges, sittlich zu Ver-
abscheuendes, ein Rückstand aus barba-
rischen Zuständen menschlicher Cultur sei,
welches schlechthin zu überwinden wäre
von dem hohen Selbstbewusstsein einer
edleren Cultur. Der Gedanke der Gewalt-
losigkeit und der Abschaffung aller Gewalt-
herrschaft in einer künftigen Gesellschaft
gewinnt so allein Sinn und sittlichen Halt,
denn der Egoismus der einzelnen, mit
welchem, paradox genug, wie wir sehen
werden, gewisse Anarchisten eine solche
künftige Ordnung rechtfertigen möchten,
rechtfertigt ebenso sehr nur das kluge Zu-
sammenhalten zielbewusster Banden, die
der naturgemäss stets relativ zurückge-
bliebenen und organisationslosen Masse
ihr Joch aufbürden. Ist nun die Gewalt
als Mittel zur Erreichung selbstischer
Zwecke überhaupt gerechtfertigt, so ist
nicht einzusehen, warum sie zur Er-
reichung solcher Zwecke eben für kluge
und rückhaltslose Egoisten geächtet sein
soll in einer künftigen Ordnung der
Gesellschaft. Sägt mit dem egoistischen
Principe des Wohlseins des einzelnen der
Anarchismus den Ast ab, auf welchem
er sitzt, so zerstört er mit dem Gewalt-
principe sein Princip der Herrschafts-
losigkeit, sofern eine auf Gewalt und
Zwang gebaute, eine nicht gewaltlose
Herrschaftslosigkeit ein hölzernes Eisen
ist. So wie aber die That mächtiger
spricht als alle Demosthenesse und das
eigentliche Leben der Idee zum Ausdruck
bringt, so zerstört ebenso die dem Prin-
cipe widersprechende That in der furcht-
barsten Weise den sittlichen Halt und
das Grundprincip und das ganze Pathos
und den ganzen Glauben an den Grund-
gedanken, mit dem sie in Widerspruch
steht. Die religiöse und sittliche An-
schauung der bisherigen Welt und aller
ihrer Parteien stand nicht im Widerspruch
sondern in Harmonie mit dem Princip
des Zwanges und der Gewalt. Die Reli-
gion ebenso, welche die Rache und ewige
Vergeltung in der allerhöchsten Person der
Gottheit heiligt, wie das Recht und der

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 121, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-05_n0121.html)