Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 122

Die Krise des Anarchismus (Schmitt, Dr. Eugen Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 122

Text

SCHMITT: DIE KRISE DES ANARCHISMUS.

Staat die irdische Vergeltung und gewalt-
thätige Wehr in verschiedenen Formen
heilig sprechen, die ganze sittlich-religiöse
Weltanschauung des Weltalters, welches
wir hinter uns haben und das heute noch
für die grosse Menge der Menschen in
Kraft besteht, steht in Harmonie mit
solcher Lebensordnung und mit dem Prin-
cip der Gewaltanwendung überhaupt. Doch
im innersten Marke des eigenen Prin-
cipes wüthend als sein specifischer Feind,
tritt das Gewaltprincip dem Anarchismus
entgegen. Solche innere Widersprüche
kann keine Idee ertragen. Sie muss sie
überwinden oder rettungslos der Selbst-
auflösung verfallen.

Ist eine menschliche Cultur überhaupt
nur auf Grundlage der sittlich-religiösen
Heiligung der Grundsätze der Organisation
ihrer Gesellschaft möglich, so können
nichtanarchistische Parteien ohne Ge-
fährdung ihres culturellen Lebensnerves
mit Erfolg durch Gewalt ihr Princip in
die Welt einführen und in derselben zu
erhalten versuchen, weil ihr Princip das
des Rechtes, das heisst der Heiligung
einer auf Gewalt basierten Ordnung der
Gesellschaft ist. Wenn aber Anarchisten
die Gewalt betonen, so hat das einen
ganz anderen Sinn, so ist das die ihres
Heiligenscheines beraubte, die ganz pro-
fane
, autoritätslose Gewalt. Das ist die
eigentliche Ursache des Entsetzens,
welches die der Anarchie gegenüber-
stehende Welt hiemit ergreift. Die Anarchie
profaniert und ächtet damit sittlich rettungs-
los das Heiligthum der Ordnung der be-
stehenden Welt, deren Bestand eben in
der Heiligung des Zwanges und der Ge-
walt liegt. Sie greift das Grundprincip
der bestehenden Cultur in der Wurzel an.

Das Gewaltprincip der Anarchie ist dies
Schreckliche als das völlig Culturwidrige,
culturell Unmögliche, als welches es eben-
so von den Herrschenden wie auch von
der Menge ganz richtig erfasst wird, als
das Gewaltprincip, welches sich selbst
alles Heiligenscheines entkleidet hat (denn
die sittliche Ächtung, das Verabscheuens-
werte alles Zwanges, aller körperlichen
Gewalt ist eben das Grundprincip des
Anarchismus) und nun inmitten einer durch
Jahrtausende vorbereiteten, in uralten Tra-
ditionen des Menschengeschlechtes be-
ruhenden Cultur, die alle Genialität schöpfe-
rischen, individuellen und Völkergeistes
darauf verschwendet zu haben schien, um
eben das ungeheure Paradoxon der Heili-
gung der thierischen Gewalt zu vollenden,
nun als ungeschminkte, entheiligte, nackte
und thierische Gewalt gleichsam aus vul-
canischen Tiefen als wilde Urgewalt der
Natur hereinbricht, die jene Culturen mit
glühender Lava zu verschütten droht.
Denn mit dem Umsturz der alten Autori-
täten, der Heiligung der alten Gottheit,
des alten himmlischen Gewaltherrschers
und Fürsten über diese Welt, mit dem
Naturalismus, der nach der Zerstörung
dieses himmlischen Bildes eintritt, ist die
Gewalt alles ihres Nimbus beraubt, den
sie nöthig hat, um Recht zu sein und Recht
zu schaffen, den sie nöthig hat, um als
Gewalt-Cultur zu gestalten und zu er-
halten. Es ist die anarchistische Gewalt
so die rechtlose, die naturalistisch-thierische
Gewalt, die auch nicht mehr eine Rechts-
ordnung oder eine Gesellschaftsordnung
irgend einer Art ins Auge fassen kann,
sondern nur das Wohlsein des einzelnen,
des durch kein Band des Rechtes mehr
gefesselten souveränen einzelnen.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 122, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-05_n0122.html)