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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 118

Text

MAUCLAIR: JAMES ENSOR.

wie die Flüssigkeit die Platten. Das Ge-
dränge bei der Scene, die durch die Er-
zählung Hop-Frog von Poe angeregt wurde,
zeigt auch Legionen Figurinen von bezeich-
nender Häuslichkeit. Man muss als einen
der lustigsten Kupferstiche die winzige
»Bataille des éperons d’or« nennen, wo
das Komische der zahllosen, lebensvollen
Gruppen sich in einer weiten Landschaft
von genauen Umrissen, mit Zusammen-
stellungen von Ellipsen und Horizontalen
ausprägt, die ebenso genial als einfach sind.
Ich füge die kleine Skizze »Jésus tenté«
dieser Gruppe von phantastischen Werken
hinzu, welchen ich unter denen, die Ensor
geschaffen, den Vorrang gebe.

Wie gross auch der Wert sein mag,
den man in diesen Arbeiten phantastischen
Genres sieht, so könnte man heute doch
ähnliche finden. Dagegen frage ich, ob
man bei einem anderen die Landschafts-
und Seebilder in solcher Eigenartigkeit
der Ausführung und des Stils wiedersieht.
Ich glaube nicht unbedacht, sondern mit
dem Ergebnis überlegter Studien zu be-
haupten, dass, wenn dergleichen vorkommt,
ich so etwas noch bei keinem anderen
Stahlstecher der Gegenwart gefunden habe.
Es gibt einige glänzende Meister dieser
Technik: Besnard, Félicien Rops, Hellen,
Zorn, Max Klinger, Legros haben darin
ihr stürmisches oder feines Temperament
zum Ausdruck gebracht. Ausser diesen
Schöpfern, die fortfahren im Stahlstich
zu schaffen und denselben ihren Wünschen
fügig machen, gibt es Ausübende, wunder-
bar geschickte Übersetzer der Farben in
Weiss und Schwarz, als da sind: Lepère,
Buhot, Abel Mignon, Champollion, Stecher,
deren Können den Höhepunkt auf diesem
Gebiete der Kunst erreicht hat. Die Ar-
beiten von Ensor gleichen all dem nicht.
Sie haben einen eigenen Ton, sie sprechen
eine individuelle Sprache.

Mit absoluter Sicherheit des Entwurfes,
mit einfacher, classischer Festigkeit dar-
gestellt, bringen sie in seltener Weise die
Durchsichtigkeit der verschiedenen Licht-
zonen, die Schärfe der Schatten in der
freien Luft, die Bestimmung der Details,
die Eigenschaft jedes Gegenstandes zur
Geltung. Die Dichte und die Durchsichtigkeit
der Luft lassen sich darauf mit Ge-
nauigkeit feststellen.

Ensor hat diesen Effect in seiner
Macht, so weit ihn ein Maler besitzen
kann, und er hat ausserdem einen unge-
wöhnlichen Vortheil im Gebrauch dieses
Effectes. Zahlreiche Künstler glauben ge-
nügend gethan zu haben, wenn sie diese
oder jene Farbenwirkung richtig angewandt
haben, aber sie fühlen sie nicht so fein.
Der Ausdruck, der Stil und die Vor-
nehmheit, die ein gewisses Schwarz un-
mittelbar neben einem gewissen Grau in
sich schliesst, entgeht ihnen vollkommen.
Ensor ist ein Liebhaber des Abtönens bei
den Stichen. Man könnte sagen, er sei
ein Colorist, dem der Gebrauch der Farben
untersagt ist, und der, da er den Bleistift
als einziges Mittel hat, um Ausdruck her-
vorzubringen, sich bemüht, trotzdem seiner
Neigung zu folgen. Daher diese sonderbare
Genauigkeit in der Verschiedenheit des
Gebrauchs der Tinte, in der Ätzung, der
Schattenwirkung, daher diese contrastie-
renden Lichtschichten, dieses Herabsetzen
des ganzen Stiches auf einen bernstein-
oder elfenbeinfarbenen Ton. Daher dieses
Fluidum, diese leichten Gegensätze, diese
immer klaren Entwürfe, die nie mit un-
nöthiger Schwärze überladen sind, daher
diese abgetönten Wirkungen von Grau in
Weiss, diese feuchten und langen Schatten,
dieses nördliche, gedämpfte, wechselnde
Licht, welches die Gegenstände überflutet,
ohne sie zu rändern, und welches in den
Stichen von James Ensor ein fortgesetztes
Flimmern des Lichtes gibt. Die Umrah-
mung ist ebenso angethan zu gefallen. —
In dieser Serie gibt es zahlreiche, kleine
Platten, die der Künstler sicher in der
Tasche getragen und am Platze gemacht
hat; sie haben nicht den combinierten
Anschein einer Atelierarbeit, sie behalten
das Ursprüngliche, die Blume der Pleinair-
Skizze. Sie sind frisch und lebhaft wie
eine Pastellskizze, mit dieser Nuance von
Härte, den der Grabstichel und das Metall
ihnen verleihen. Die auf diese Weise fest-
gehaltene Skizze vereinigt sich ganz na-
türlich mit dem Anblick des Gesehenen
und dem flüchtigen Entwurfe.

Man befrage die Eindrücke über das
Dorf und die Umgebung von Mariakerke
und über den Ostender Hafen, man wird
darin den Beweis von Meisterschaft finden.
Nie war der Stahlstich besser in Farbe

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 118, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-05_n0118.html)