Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 136

Unsere Zeitungen (Heidenstam, Verner von)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 136

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HEIDENSTAM: UNSERE ZEITUNGEN.

achtenswerten, das er enthält, oder auch
in dem Namen, mit welchem er unter-
zeichnet ist, zu suchen ist.

Dieser Aufsatz macht keinen Anspruch
darauf, in einer so verwickelten Maschinerie
wie die der Publicität Licht und Schatten
in vollauf gebürender Weise zu vertheilen.
Dazu bedürfte es einer weit breiteren Aus-
führlichkeit, als das Thema hier erhalten
kann. Der Zweck war, einen Augenblick
bei dem herrschenden Missvergnügen zu
verweilen und gleichzeitig die Wege zu
betrachten, die am ehesten vorwärts führen
würden. Viele Reformen könnten sich hiebei
als wünschenswert erweisen. Die wesent-
lichste lässt sich jedoch in der natürlichen
Forderung zusammenfassen, es möge den
Partei-Interessen nicht ein Gewicht und
Umfang beigemessen werden, dem jede
Übereinstimmung mit den thatsächlich so
seichten Wurzeln des Parteigeistes im Leben
der Nationen fehlt, sowie auch dass die
Presse, statt einen niederern Standpunkt zu
wählen als den des Publicums selbst, nicht
bloss ein Ausdruck werde für die wirklichen
Ansichten der gebildeten Classen, sondern
auch eben diesen Classen eine Leuchte auf
dem Wege der Erziehung. Es sind nicht so
wenige Zeitungen, die sich das schöne
Ziel, Kentnisse unter den Unwissenden
zu verbreiten, gesetzt. Man scheint aber
fast vergessen zu haben, dass auch ein
gebildeter Mensch den Wunsch haben
kann, den morgens und abends auf
allen möglichen Tellern mit leicht ver-
gifteter Sauce servierten Tagesneuigkeiten
zu entgehen. Die Durchführung des
Persönlichkeitsprincips ist der erste Schritt
in dieser Richtung, wenn auch ganz sicher-
lich die technischen und rein praktischen
Forderungen künftighin eher noch geschärft
als beiseite gedrängt werden dürften.

Die Zeitungen sind uns in erster Reihe
die Klatschbase, die sich einfindet, um
zu erzählen, was geschehen und was ge-
sagt worden ist. Genau genommen kann
sie niemals zu viel erzählen. Manchmal
fesselt sie uns mit ihren Geschichten;
manchmal zucken wir die Achseln und
ärgern uns; bliebe sie jedoch plötzlich
aus, so würde das einen Wirrwar, eine
Angst und Unbehaglichkeit hervorrufen,
von deren Umfang wir uns keine Vor-
stellung machen können. Das ist ja eben
die unvergängliche Bedeutung der Presse,
dass sie uns in die Lage setzt, alle Er-
eignisse der Mitwelt im Guten wie im
Bösen zu controlieren und es uns da-
durch ermöglicht, uns eine einigermassen
selbständige Auffassung zu bilden. Lüftet
dann die Klatschbase ihre Maske, so steht
in der Vermummung ein Jüngling da,
prahlend, trotzig, trunken von seiner eigenen
Macht und doch mitunter mit einem
Schimmer aufbrausender Lust an Kampf
und edlem Ruhm. Er blickt einem langen
Leben voll harrender Thaten entgegen,
blickt der Gewissheit entgegen, einer der
Helden zu werden in der Geschichte des
Jahrhunderts. Um die ganze Erde hat er
ein Netz von Sehnerven gespannt, und
bei jedem Knoten des Netzes sitzen Tag
und Nacht seine Diener. Und befragst du
ihn um den rothen Fleck, der zeitweilig
auf seiner Stirne aufflammt, so wird er
antworten:

»Es ist das Merkmal eines Kusses.
Mein Vater Phöbus Apollo drückte ihn
auf meine Stirn, als er nach meiner Ge-
burt meine Mutter verliess, eine übel-
berüchtigte irdische Nymphe aus den
Wässern von Babylon, die sich ihm für
einen der Goldknöpfe seiner Lyra ver-
kauft hatte.«


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 136, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-06_n0136.html)