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finden, dass ein höheres organisches
System sich bildet, in Bezug auf welches
der Gelehrte, der Arzt, der Künstler und
der Gesetzgeber, so wie wir jetzt diese
kennen, als dürftige Alterthümer erscheinen
müssten!«
Nietzsche zeigt, wie in anderen Din-
gen so auch hier, die feinste Witterung.
Er ahnt eine solche Vervollkommnung,
ohne zu wissen, dass einer bereits, frei-
lich nur einer, diese in sich verkörpert
hat, bestaunt aber unbegriffen von der
Welt. Die Stelle ist wie in Hinblick auf
Bacon geschrieben; es dürfte nur nach
den Worten: »Und wie ferne sind wir
noch davon« — »zu erkennen« einge-
schaltet werden, um sie als einen ebenso
knappen wie schlagenden Beweisgrund in
der Bacon-Shakespeare-Frage verwenden
zu können.
Aber freilich: wie ferne sind wir noch
von der Erkenntnis, dass dergleichen nur
überhaupt möglich, geschweige denn, dass
ein solcher Fall bereits vorliegt!
Bei Bacon war offenbar alle Erkenntnis
in Wissenschaft, Kunst, Leben und Natur
so wunderbar verquickt miteinander, wie
nie vorher und nachher in einem Menschen-
geiste. Und nur dieser seltenen, innigen
Durchdrungenheit verdanken eben die
Dramen Shakespeares ihre merkwürdige,
einzigartige Physiognomie. Da niemand
in den nächsten Jahrhunderten nach
Shakespeare den wahren Verfasser der
Dramen kannte und somit nichts von
seinem Lebens- und Studiengange wusste,
so konnte in diesem Falle die lächerliche
Nergelei der Philisterseelen nicht platz-
greifen, die beispielsweise einem Goethe
den Vorwurf machten, dass er, der
Dichter, sich mit Naturwissenschaft
beschäftige, und nicht verfehlt haben
würden, erst recht den »Dilettantismus«
Bacons auf allen möglichen Gebieten zu
rügen. Denn dass der Dichter eigentlich
alles kennen sollte — diese Erkenntnis
geht über den Horizont der meisten.
Goethe notierte in seinen »Annalen«
unter 1790, dass er, nach Schlesien ins
Kriegslager berufen, sich unaufhörlich mit
vergleichender Anatomie beschäftigt
habe, zu welcher er sonderbarlich angeregt
worden sei. »Als ich nämlich auf den
Dünen des Lido, welche die venetianischen
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Lagunen von dem Adriatischen Meere
sondern, mich oftmals ergieng, fand ich
einen so glücklich geborstenen Schaf-
schädel, der mir nicht allein jene grosse,
früher von mir erkannte Wahrheit: die
sämmtlichen Schädelknochen seien aus
verwandelten Wirbelknochen entstanden,
abermals bethätigte, sondern auch den Über-
gang innerlich ungeformter, organischer
Massen, durch Aufschluss nach aussen,
zu fortschreitender Veredlung höchster
Bildung und Entwicklung in die vorzüg-
lichsten Sinneswerkzeuge vor Augen stellte,
und zugleich meinen alten, durch Erfahrung
bestärkten Glauben wieder auffrischte,
welcher sich fest darauf begründet, dass
die Natur kein Geheimnis habe, was sie
nicht irgendwo dem aufmerksamen Be-
obachter nackt vor die Augen stellt.«
So Goethe. Ludwig Börne, der die
»Annalen« im Jahre 1831 recensiert
(Gesammelte Schriften, 9. Band, Seite 85),
wird durch jene Stelle zu folgender Apo-
strophe veranlasst:
»Was? Goethe, ein reichbegabter
Mensch, ein Dichter; damals in den schönsten
Jahren des Lebens, wo der Jüngling neben
dem Manne steht, wo der Baum der Er-
kenntnis zugleich mit Blüten und mit
Früchten pranget — er war im Kriegs-
rathe, er war im Lager der Titanen (!)
— und zu nichts begeisterte ihn
dieses Schauspiel, zu keiner Liebe, zu
keinem Hasse Und als die präch-
tigsten Regimenter, die schönsten Officiere
an ihm vorüberzogen, da bot sich
seinem Beobachtungsgeiste kein anderer,
kein besserer Stoff der Betrachtung dar
als die vergleichende Anatomie? Und als
er in Venedig lustwandelte — Venedig,
ein gebautes Märchen aus Tausend und
einer Nacht; wo alles tönt und funkelt
da verkroch er sich in einen geborstenen
Schafschädel
Und den Mann
soll ich verehren? den soll ich lieben?
Eher werfe ich mich vor Fitzli-Putzli in
den Staub; eher will ich Dalai-Lamas
Speichel kosten. Hätte Deutschland, ja
hätte die ganze Welt nur zwei Dichter,
nur zwei Brunnen, ohne die das Herz
verschmachten müsste in der Sandwüste
des Lebens — nur Kotzebue und Goethe
— tausendmal lieber labte ich meinen
Durst mit Kotzebues warmer Tränensuppe,
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