Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 144

Randglossen zur Bacon-Shakespeare-Frage (Bötticher, Georg)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 144

Text

RANDGLOSSEN ZUR BACON-SHAKESPEARE-FRAGE.
Von GEORG BÖTTICHER (Leipzig).

Wer die Dinge nicht oberflächlich be-
trachtet, den kann die Erörterung der Frage,
ob der Staatsmann und Gelehrte Bacon oder
der Schauspieler Shakspere die Shakespeare-
Dramen verfasst habe, nicht müssig dünken.
Und wen Edwin Bormanns »Shakespeare-
Geheimnis« von der völligen Überein-
stimmung der Geister Bacons und des
Verfassers jener Schauspiele überzeugt hat,
dem wird die Erkenntnis davon eine gerade-
zu ungeheuere Fernsicht eröffnen. Das
durch die wissenschaftliche Beweisführung
Bormanns gelieferte Ergebnis muss ihm
als Ausgangspunkt einer neuen Erklärung
des Begriffes »Genie« und somit als her-
vorragend wichtig für die Geschichte des
Menschengeistes erscheinen.

Die grössten Dichter und Denker nach
Shakespeare sind darüber einig, dass
in den Schauspielen, die diesen Verfasser-
namen tragen, eine unerhörte, weder vor-
her noch nachher wieder erreichte Kunst
waltet, eine Kunst der Menschendarstellung,
so tief, reich und gewaltig, dass selbst
die besten Dramen des Alterthums in
dieser Hinsicht keinen Vergleich damit
aushalten. Goethe beispielsweise, wahrlich
nicht zu Übertreibungen geneigt, noch
leicht aus der Fassung zu bringen, und
unstreitig seit Shakespeare der bedeutendste
Dichter, findet kaum Mass und Ziel in der
Bewunderung dieses Riesengeistes und ge-
steht unumwunden, dass er sich »ihm durch-
aus unterzuordnen und ihn als ein Höheres
zu verehren habe.« Alle Kritiker von Be-
deutung stimmen mit Goethe darin über-
ein, dass kein Dichter von allen, deren
Werke auf uns gekommen, eine solche
fast unbegreifliche Allseitigkeit, eine solche
staunenswerte Kenntnis von den Höhen
und Tiefen der Menschennatur, von ihrem
innersten Leben wie äusserlichen Gebaren,
kurz von allen Dingen der Welt zeigt wie
dieser Shakespeare. Dies gibt jedermann
zu. Aber Widerspruch, ja Gelächter erhebt
sich, wenn man — wie Bormann es ge-

than hat — darzulegen sucht, dass ein
solch völlig anders wie alle anderen ge-
arteter Geist, von dem die Grössten, auch
ein Goethe, durch eine ungeheuere Kluft
— seine Universalität — getrennt sind,
auch eine andere Art zu schaffen,
eine völlig verschiedene Weise zu
denken als jene minder universalen
Naturen gehabt haben müsse
.

Dennoch scheint nichts natürlicher als
diese Annahme. Bietet sie doch die einzige
Erklärung für den wunderbaren Eindruck,
den jeder nachdenkliche Mensch beim
Lesen der Shakespeare-Dramen — und
nur beim Lesen dieser Dramen —
empfängt: dass ihr Schöpfer, allen an-
deren Dichtern ungleich, völlig hinter
seiner Schöpfung zurücktritt, dass eine
fast übermenschliche Unparteilichkeit in
der Welt dieser Dichtungen waltet und
wir bei dem Reichthum, der Fülle des
Gebotenen nicht wissen, ob wir mehr den
Künstler oder den Gelehrten, mehr den
Kenner des Menschenherzens oder der
Weltformen bewundern sollen. Wer wie
dieser Dichter alles, was im Schauspiel
dieses Lebens vorgeht, alles bis in die
kleinsten Äusserlichkeiten der Er-
scheinung
mit unfehlbar sicherer Hand
zu erfassen, gleicherweis verständnisvoll
und unter gerechtester Vertheilung von
Schatten und Licht zu behandeln vermag,
der muss wohl auch in der Art, dem
System seines Schaffens, ja überhaupt
seines Denkens in dem Masse von den
übrigen Dichtern abweichen, wie seine
Kunst die ihrige überragt.

Wie wunderlich berührt nach solcher
Betrachtung die folgende Äusserung
Nietzsches, die sich in seinen gesammel-
ten Werken, Band V: »Die fröhliche
Wissenschaft« auf Seite 155 befindet:

»Und wie ferne sind wir noch davon,
dass zum wissenschaftlichen Denken sich
auch noch die künstlerischen Kräfte und
die praktische Weisheit des Lebens hinzu-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 144, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-06_n0144.html)