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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 148

Text

BLISS: EINE VON VIELEN.

hatte. Und nun überkam sie ein namen-
loser Ekel vor ihrer Vergangenheit und
sie schämte sich ihrer ehemaligen Ver-
worfenheit. Ihn aber, der sie diesem Sumpf
entrissen, ihn liebte sie nun, ihn betete sie
an, für ihn wäre sie gestorben. — — —
Und nun sollten sie sich trennen. Es
musste sein, das wusste sie. Schon lange
hatte sie mit Schrecken an diesen Augen-
blick gedacht — nun war er da. Was
nun? Sie wusste nichts. Aber ganz gleich,
sie musste fort. Etwas anderes gab es
nicht. Er musste frei sein. Seinem Fort-
kommen durfte sie nicht hinderlich sein.
Also Muth!

Am nächsten Tage, als er ausgegangen
war, packte sie ihre Sachen, schrieb ihm
ein Lebewohl und dann gieng sie fort,
in die Welt hinein.

Sie hatte etwas Geld. Für die ersten
Wochen war sie geborgen. Aber was
dann? Ein Schaudern ergriff sie.

Arbeiten wollte sie. Zwar verstand sie
nichts, nicht einmal kochen konnte sie.
Aber sie wollte lernen, alles lernen, was
man von ihr verlangte, nur nicht wieder
zurück in den Schmutz von ehedem.

Und sie arbeitete, fein und grob, alles,
was man ihr bot. Oft zwar erlag sie fast
den Qualen, die sie erdulden musste, aber
immer wieder raffte sie sich auf, immer
wieder ertrug sie alle Demüthigungen und
Grobheiten, die man ihr anthat.

Manchmal kam ihr der Gedanke, an
ihn zu schreiben — er würde ihr ja doch
gewiss helfen! — aber niemals that sie
es — nein! nein! sie wollte ihm nicht
zur Last fallen, er sollte frei sein!

Eines Tages aber wurde sie krank.
Die Last der Arbeit und der heimliche
Kummer der Seele warfen sie nieder. Sie
kam ins Spital.

Lange, bange Wochen vergiengen. Oft
schon hatten die Arzte sie aufgegeben.
Aber immer wieder trug ihre zähe Natur
den Sieg davon. Und endlich, als der
Frühling kam, wurde, sie als gesund ent-
lassen.

Von neuem begannen die Sorgen ums
Brot.

Da führte der Zufall ihr eine ehemalige
Freundin in den Weg. Natürlich war diese

noch immer beim Chor, aber die Eleganz
ihrer Kleidung verrieth, dass sie noch
Nebeneinkünfte hatte.

»Armes Hascherl,« rief sie, als sie
Else erkannte, »wie schaust denn aus!« —
dann nahm sie sie mit in ihre Wohnung
und liess sich ihre Geschichte erzählen.

Und Else blieb bei der Freundin, einen
Tag und eine Nacht, bis sie sich kräftig
genug fühlte, die Arbeit wieder aufzu-
nehmen. Dann gieng sie fort, denn sie
hatte Angst vor der Freundin und deren
Lebensweise.

Von neuem begann sie, sich zu plagen.
Tag und Nacht arbeitete sie. Aber wenn
die Woche zu Ende war, hatte sie kaum
so viel verdient, um das Nothdürftigste
zu kaufen.

Doch deshalb machte sie sich keine
Sorge mehr. Sie lebte jetzt wunschlos
und traurig dahin. Nur an ihre Arbeit
dachte sie.

Aber manchmal in den warmen Sommer-
nächten, wenn sie keinen Schlaf fand,
dachte sie an Fritz zurück und dann kam
der ganze alte wilde Schmerz zum Aus-
bruch und sie schluchzte dann die ganze
Nacht durch. Und eine wilde Wuth über-
kam sie dann — war sie nicht auch ein
menschliches Geschöpf, hatte sie nicht auch
Rechte ans Leben, Rechte aufs Glück!
Und ein weher Schmerz rang sich dann
durch, ein Aufschrei, herzerschütternd,
eine Sehnsucht nach dem Leben, nach
dem Glück!

Eines Tages lernte sie einen Bau-
meister kennen. Ein junger Mann, unver-
heiratet und voll Lebenslust.

Er engagierte sie als Wirtschafterin.

Und sie zog zu ihm.

Sie wurden gut mit einander fertig.
Sie hielt alles sauber und in Ordnung
und er respectierte ihren Ernst und ihre
Haltung.

Aber eines Abends kam er angeheitert
nach Hause. Und da nahm er sie in seine
Arme und küsste sie wild und voll junger
Leidenschaft und hielt sie so fest umfasst,
dass sie nicht wieder frei kam.

Am nächsten Morgen erwachte sie
mit wüstem Kopf. Und mit entsetzlicher
Klarheit stand nun ihre Zukunft vor ihr.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 148, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-06_n0148.html)