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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 147

Text

BLISS: EINE VON VIELEN.

Unberührt standen die Speisen. Wenn
er nicht da war, mochte sie auch nichts
essen.

So vergieng auch der Abend und die
Nacht brach an und noch immer kam
er nicht.

Dann zündete sie die Lampe auf seinem
Schreibtisch an, nahm ein Buch zur Hand
und so wartete sie nun weiter.

Endlich kam er. Kurz nach zehn war es.

Ruhig, fast heiter, trat er näher, küsste
ihr Haar, sagte ein paar entschuldigende
Worte und liess sich dann nieder vor
seinem Schreibtisch.

Stumm sah sie zu ihm hin. Und als
sie auf seinem Gesicht las, da wusste sie,
dass nun das entscheidende Wort ge-
sprochen werden sollte. Ein Schauer über-
lief sie, ein Zittern rann ihr durch den
Körper und durch die Adern jagte das Blut.

Dann begann er mit leiser unsicherer
Stimme.

»Schatz, wir müssen uns trennen.«

Weiter kam er nicht. Der Athem
stockte und seine Stimme versagte. Er
sah in das Licht der Lampe.

Und auch sie schwieg, aber sie starrte
ihn an, mit entsetzten Blicken — sie
glaubte es noch nicht, sie wollte es noch
nicht glauben, — nein! nein! nur das
noch nicht!

Minutenlanges Schweigen. Nur das
Ticken der Uhr und von der Strasse her
das Getöse.

Endlich raffte sie sich auf — stark
sein jetzt! Das war nothwendig. Und
dann fragte sie mit erkünstelter Ruhe:
»Du willst heiraten, nicht wahr?«

Er nickte, sah sie aber nicht an.

Und sie schwieg auch, denn nun war
ihr mit einmal alle Hoffnung entschwunden.
Sie hatte sich selbst den Todesstoss gegeben.
Alles war nun aus.

Wieder minutenlanges Schweigen.

Dann erhob sie sich und wollte ins
Schlafzimmer gehen, alles ruhig und ge-
lassen, wie gewohnheitsgemäss.

Da aber rief er sie, bittend, flehend:
»Else!«

An der Thür schon, drehte sie sich
um und sah zu ihm hin, mit fragenden
starren Augen.

»Else, es gibt doch keinen anderen
Ausweg, meine Mittel sind aufgebraucht

und von dem bisschen, das ich mit meiner
Kunst verdiene, können wir nicht leben.«

Sie nickte nur. Und dann mit tonloser
Stimme: „Aber, Fritz, ich mache Dir ja
auch keinen Vorwurf.«

»Aber Dein Blick, Dein Wesen —
Else, Else, ich bitte Dich, glaub’ meinen
Worten, ich kann nicht anders!«

Ruhig antwortete sie: »Ich glaube Dir,
Fritz.«

Da war er bei ihr und hatte sie im Arm.

»Und Du zürnst mir nicht, Schatz?«

»Nein, Fritz, ich gebe Dich frei« —
mit übermenschlicher Kraft hielt sie sich
aufrecht.

Aber als er sie an sich riss, mit
glühenden Küssen ihr Gesicht traf, da
entwand sie sich ihm behend und gieng
hinaus. Das ertrug auch sie nicht.

Und dann auf ihrem Bett, da sank
sie zusammen, da brach der Sturm los
und da schluchzte sie in die Kissen hinein,
— nun war kein Halten mehr, nun tobte
der Schmerz sich aus.

Sie war zwanzig Jahr. Drei Jahre
lebten sie nun zusammen.

Damals, als er sie fand, war sie beim
Theater Choristin. Und er nahm sie, wie
man ein Blümchen nimmt, das man am
Wege findet. Wer sie war, wusste sie
selbst nicht. Nur eine Pflegemutter hatte
sie. Aber auch diese wusste nichts Genaues.
Im Schmutz war sie gross geworden. Und
schon mit fünfzehn Jahren kannte sie das
Leben. Aber sie wusste nicht, dass sie in
Schmutz und Laster lebte, denn sie hatte
nie etwas anderes kennen gelernt von
Jugend an. Da war er gekommen. Ihr
kleines Schelmengesicht gefiel ihm und
ihre lachende Sorglosigkeit, die die Dinge
nahm, wie sie waren, zog ihn an. Bald
wurden sie bekannter und dann konnte er
sie nicht mehr entbehren. Er nahm sie
zu sich, er erzog sie sich. Er lehrte sie,
das Schöne suchen und das Hässliche
meiden. Er zeigte ihr, dass in der Welt
auch Gutes war, Edles und Reines, nicht
nur Schmutz und Elend. Und lernbegierig,
durstig, hungrig, nahm sie all das in sich
auf. Eine neue Welt erstand vor ihr. Und
nun mit einemmal erkannte sie, dass sie
jahrelang in Schmutz und Schande gelebt

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 6, S. 147, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-06_n0147.html)