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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 164

Text

GEMBERG: LIEBE.

Nun stand sie vor ihm mit einem
Ausspruch, wie er ihn frivoler, cynischer
noch selten von einer Frau gehört hatte.

»Ein Liebhaber kann uns so gleich-
gültig sein wie ein Gatte.«

War dieses Wort nicht charakteristisch
für eine Weltdame ohne irgend welche
Ideale, für ein Weib, dessen Gefühlsleben
erstarrt war in Lüge und Schein?

Ihm war, als ob eine Heilige sich plötz-
lich vor ihm enthüllt habe wie eine Dirne.
Und er hatte an diese Heilige geglaubt!

Er fühlte, dass mit ihr sein letztes
Ideal zusammenbrach.

»Ich weiss nicht, was ich verschuldet
habe, gnädige Frau,« stiess er endlich
fassungslos hervor.

Wieder benahm er sich in keiner
Weise als Übermensch. Er liebte und
litt, genau wie Paul Brenneke auch, wenn
es ihr gefiel, ihn zu erhören oder ihn
zurückzustossen, je nachdem.

Wendlandt mochte selbst fühlen, dass
er keine glänzende Rolle spielte. Er empfahl
sich hastig; kaum war er im Stande, im
Vorzimmer ordnungsmässig Hut und Über-
zieher anzulegen.

Minna kroch wieder zusammen auf
ihrem Kissensopha, rauchte nachdenklich
ihre Cigarette zu Ende und erwog wieder
einmal das Problem, das sie schon so oft
beschäftigt hatte: Existiert das, was man
Liebe nennt? Und wenn es existiert, wie
soll man es geniessen?

Paul Brenneke trat leise bei ihr ein.
Er war in tadellosem Strassenanzuge. Er
wusste, dass Minna Wert darauf legt und
deshalb opferte er ihr oft genug seine
Bequemlichkeit, wenn er aus dem Geschäft
kam und sich vielleicht ganz gerne etwas
hätte gehen lassen.

»Hat Herr Wendlandt Dich gut unter-
halten, Kind?« fragte er freundlich.

»Nein, er hat mich gelangweilt,« ant-
wortete sie verdriesslich.

»Du bist noch im Hauskleid, Minna?
Fühlst Du Dich vielleicht nicht wohl?«

»Und wenn das wäre? —«

Bei ihrer nachlässigen Frage springt
er ganz erschrocken auf.

»Liebling, verschweige mir nichts!
Wenn Dir auch nur das Geringste fehlt,
will ich alles thun, was ich für Dich
thun kann.« — —

— — Wieder fühlt sie diese kalte,
grausame Neugierde, die sie so oft drängt,
die Menschen zu quälen, um sie dann,
wie ein Vivisector sein Opfer, zu be-
obachten.

»Würdest Du wachen, wenn ich z. B.
Fieber hätte und während der Nacht einer
Pflege bedürfte?«

»Aber selbstverständlich, Du mein Glück,
mein süsses, holdes, kleines Weibchen!«

Er küsst ihre Hände und sieht sie
ganz besorgt an, denn die kleinen Hände
sind heiss und seltsam trocken.

Wie er sich über sie beugt, sieht sie
ganz genau, wie die beginnende Glatze
sich kreisförmig in seinem dünnen Haar
abzeichnet.

Wie schade, dass er diese Glatze hat
und eine so kurze, fette Gestalt! Er be-
sitzt wahrlich nicht die Erscheinung eines
Liebhabers. Nur eins hat er, was zu
einem Liebhaber gehört, die Liebe, die
treue, ehrliche, echte Liebe.

»Aber wie Du redest, Paul, Du hast
doch soundsoviele Comptoirstunden hinter
Dir. Du bist müde und schläfst jede
Nacht sehr gut. Du würdest schlafen, wenn
ich im Sterben läge.«

»Nein Kind, ganz gewiss nicht.« —

»Nicht?«

»Nein, weil ich Dich liebe.« —

»Ah, Du liebst mich?«

Sie richtet sich auf und in ihren Augen
leuchtet dieselbe Spannung, dieselbe Neu-
gierde, wie vorher bei den Erklärungen
des eleganten, jungen Schriftstellers.

Mit heimlicher Seligkeit fühlt es der
Mann. Er fühlt auch, dass sie in diesem
Augenblicke die Mängel seiner äusseren
Schönheit, die sie sonst so empfindlich
stören, nicht bemerkt.

»Ich will Dich nicht mit den Er-
klärungen meiner Liebe belästigen, Minna;
ich habe Dir das nun mal versprochen,«
sagt er traurig, fast schüchtern.

Aber sie legt einen Arm um seinen
Nacken.

»Gibt es denn wirklich Liebe? Solche
Liebe, wie die Dichter besingen, solche
Liebe, wie die Religion vorschreibt?« —

»Die Liebe, die Berge versetzt, die
Liebe, die alles duldet, alles verzeiht,
alles trägt — ja Kind, diese Liebe gibt
es — — «

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 164, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-07_n0164.html)