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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 163

Text

GEMBERG: LIEBE.

Kind ihre Puppen geliebt hatte. Sie ge-
wann auch ihren unendlich geduldigen,
nachsichtigen, gütigen Gatten lieber und
lieber von Tag zu Tage.

Sie fühlte, ohne sich darüber klar zu
sein, seine geistige Überlegenheit, seine
reifere Erfahrung. Es war ihr unmöglich,
irgend etwas zu denken oder zu thun,
ohne ihn um Rath zu fragen.

Aber das war das Alltägliche, das
Selbstverständliche, das war gewiss nicht
die Liebe! Mit inbrünstiger Neugierde
wartete sie auf das Wunder, auf das
Unerhörte, Unbeschreibliche.

Natürlich die Liebe war eine verbotene
Frucht für sie, die Gattin, die Mutter!

Sie war auch fest entschlossen dieser
Himmelswonne zu entsagen. Nein, sie
wollte nicht sündigen, nicht fallen. Nur
die Erkenntnis gewinnen!

Wenn der Apfel vom verbotenen
Baume in ihrer Hand glänzen würde,
wollte sie nicht hineinbeissen, wie Eva
damals —

I — Gott bewahre!

Sie wollte den Apfel nur ganz nahe
sehen, vielleicht ihn fühlen, sich berauschen
an seinem Duft, an seiner Farbe.

Jetzt war also der grosse Augen-
blick da!

Sie sollte die Liebe des geistreichen,
überlegenen Mannes, die Dichterliebe
kennen lernen!

Ohne Nietzsche gelesen zu haben,
hatte sie etwas vom »Übermenschen«
läuten hören.

Deshalb war sie fest davon überzeugt,
dass Gustav Wendlandt in der Stunde,
in der er ihr das hohe Mysterium der
Liebe enthüllen und zeigen würde, sich
bei dieser Gelegenheit wie ein Übermensch
benehmen müsse. Sie sollte also auch das
nun kennen lernen.

Voll banger, seliger Lust und Erwartung
blickte sie zu ihm auf.

»Meine süsse Kleine, meine schöne
Geliebte — Minna, Engel — nein, wie
kann nur ein irdisches Weib so süss, so
zum Verrücktwerden liebreizend sein!« —
stammelte er.

»Wie duftet Dein Haar, Minna! —
Sag, parfümierst Du es Dir mit Veilchen
— im Badewasser vielleicht? — —«

Wirr, zusammenhanglos, ganz ohne
besonderen Geist oder Witz stammelte
der Journalist seine Liebesworte, einzig
und allein nur bestrebt, sie zu küssen,
ihren lieblichen Körper zu berühren.

Immer banger wurde der Ausdruck
der grossen, wartenden Augen, immer
ängstlicher, weinerlicher das Zucken um
den süssen, kleinen Mund.

Langsam, langsam malte sich eine
grosse, bange Enttäuschung auf dem er-
blassten Gesichtchen.

Thränen stiegen ihr in die Kehle. —
Das, ja das war ganz genau so, wie die
Zärtlichkeiten ihres Mannes. —

Genau so?

Nein, doch nicht!

Die lässige Haltung verschwand ganz
plötzlich. Die wohllüstig gelösten Glieder
strafften sich — sie wollte ja den Apfel vom
Baum der Erkenntnis von sich schleudern!

Jetzt schien sie im Begriff, es zu thun.
Rücksichtslos stiess sie plötzlich den jungen
Mann zurück.

»Gehen Sie — das ist nicht die
Liebe!« — stammelte sie ausser sich.

»Aber Minna, ich bete Dich an.« —

»Das ist nichts Besonderes! Paul—Wie,
Paul? Fürchtest Du seinen Zorn? Bebst
Du vor der Rache des beleidigten Tyrannen?
Gegen eine Welt werde ich unsere Liebe
vertheidigen.«

»Minna! —« zärtlich sucht er sie zu
umschlingen.

»Minna, ich liebe Dich, sei mein! —

Da lachte sie laut auf.

»Geh nun! Ich weiss jetzt, was ich
wissen wollte.«

»Aber was denn?«

»Ich weiss jetzt, dass es Stunden gibt,
in denen ein Liebhaber uns genau so
gleichgiltig sein kann wie ein Gatte.« —

Wenn ein kalter Wasserguss plötzlich
über ihn herabgebraust wäre, hätte er
nicht entsetzter, nicht ernüchterter auf-
fahren können, wie bei dieser unerwarteten
Erklärung.

Er hatte eine Frau mit dem Gemüth
eines Kindes, ein engelhaftes Kind mit
dem Reiz voller Frauenschönheit in ihr
zu sehen geglaubt.

Er liebte sie wirklich. Ihre Zärtlich-
keit, ihre naive Herrschsucht, mit der sie
ihn quälte, war ihm ein Heiligthum.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 163, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-07_n0163.html)