Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 165

Liebe Christus — Dionysos (Gemberg, AdineLevetzow, Freiherr Carl von)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 165

Text

LEVETZOW: CHRISTUS — DIONYSOS.

»Wo Paul — wo?«

Sie fragt nicht mehr in Neugier, nein
in Spannung, in athemloser Spannung.

»Wo ist diese Liebe, Paul?«

»Hier.« Er deutet auf sein Herz; seine
treuen Augen leuchten.

Sie begreift. —

»Paul — Paul — hast Du mich denn
wirklich lieb?«

»Über alles!«

Weiter sagt er nichts. Aber sie er-
wartet auch auf einmal nichts weiter.

Ganz still legt sie ihren schönen
dunkeln Kopf an seine Schulter und hört
zu, wie er ihr leise und innig das er-
zählt, was er unter Liebe versteht. —

Liebe —


CHRISTUS — DIONYSOS.
Von KARL Freiherrn von LEVETZOW (Wien).

Christus im Olymp — oder der Sieg
des Christenthums, das ist das Facit so
ziemlich aller Urtheile über das Klinger-
Werk, das wir nun endlich einmal in
Wien haben. Ich war glücklich, als es
kam. Ich sah schon im Geiste die köst-
liche Saat grosser Culturideen, die es aus-
streuen kann, bei uns aufgehen. Ich sah
eine neue Weihe die Herzen erfassen,
die nach Weihe dürsten. Ich sah die
stille, naive, unvermerkte Wirkung auf
stille, naive, unbemerkte Menschen; auf
jene, die die grossen Ideen nicht genau
abgegrenzt ausdrücken oder erkennen
können, aber fühlen und ahnen; jene
Menschen, auf deren Schultern die Lauten,
die Sprecher, die Bemerkenswerten stehen,
die erfassen können, und, wenn sie er-
fasst haben, mit sich reissen. Aber leider.
Man hat die Naiven nicht naiv aufnehmen
lassen. Man liess den Samen nicht unbe-
hindert ins gute Erdreich fallen. Die
Vögel des Himmels kamen und trugen
ihn fort. Die gescheiten Leute kamen
und wollten dem Sämann behilflich sein.
O, über die gescheiten Leute! O, die
überklugen Vögel des Himmels, die aus
allen Zeitungsblättern zwitschern und gute
Samenkörner diebisch in ihren Kropf ver-
schwinden lassen.

Der Sieg des Christenthums! Bekreu-
ziget Euch. — Es ist unglaublich, welche
Menge schlechten Weihrauchs auf einmal
bei uns verbrannt wurde. Seit wir den
Klinger hier haben, riecht ganz Wien wie
die Sakristei in der Franziskanerkirche, oder
wie das schlecht gelüftete Zimmer einer

alten Jungfer, die den Kirchengeruch
immer um ihren unberührten Leib haben
will, und daher »Franziskerln« anzündet.
Und es ist auch viel von jenem Kleine-
Leute-Geruch dabei, welchen Nietzsche
für diese Art Christenthum so charakte-
ristisch fand — und von jenem übel-
riechenden Athem der Menge, der Unter-
menschen, vor dem Julius Cäsar (nach
Shakespeare) epileptische Ekelkrämpfe be-
kam. Doch genug über den neuesten
Wiener Mode- und Strassenparfum. Ich
möchte ein paar der guten Samenkörner
vor den Harpyen des Himmels retten.

Vorerst etwas über die unanständig
nackten Figuren des Bildes. Die Wiener
sind nämlich nicht gewöhnt, nackte
Menschen zu sehen; denn in Bäder gehen
sie wenig, jedenfalls zu wenig, und auf
der Gasse geht man schlecht und jeden-
falls unanständig — viel angezogen,
daher ist man auch erschüttert über die
»Magerkeit« der Götter (»mollert« sollten
sie sein) und hält das für ein Zeichen
von Herabgekommenheit. Nun Klinger
ist eben gottseidank kein Mastviehmaler
und weiss, dass Schönheit und Fett
nicht identisch ist. Und (um das Autoren-
recht nicht zu verletzen, sei es ge-
sagt): Der Bierbauch ist wie das Pulver
eine germanische Erfindung bei der
Morgenröthe der sogenannten Neuzeit.
Er hängt mit dem grossen Wunder zu-
sammen, das der deutsche Michel voll-
bracht; der hat nämlich zwar nicht wie
Christus in einem seiner sympathischesten
Lebensmomente, bei der Hochzeit von

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 165, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-07_n0165.html)