Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 167

Christus — Dionysos Selbstbiographie (Levetzow, Freiherr Carl vonAltenberg, Peter)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 167

Text

ALTENBERG: SELBSTBIOGRAPHIE.

Allgeschlecht, Weltseele, Allseele. Ewig
neue Zeugung in Grausamkeit und Liebe,
die Dyas des neuen erneuerten, wieder-
gebornen Olymp, das ist Christus-Dionysos,
die Personification einer neuen Culturidee,
der ewige Entwicklungsgedanke, der die be-
geistern wird, die die neue Menschheit er-
ahnen, bilden, zeugen werden. Die grossen
schaffenden Künstlerpropheten und Orphi-
schen Philosophen, von deren Stirne die
Morgenröthe einer neuen Menschheit
strahlen wird, bis sie selbst heraufkommt,
die Mittagssonne der neuen sonnigen
Menschheit.

Die dionysischen Mänaden haben Or-
pheus zerrissen; und doch war Dionysos
der Begeisterer der höchsten antiken Cultur-
ideenerahner.

Christliche Mänaden haben so manchen
späteren Orpheus zerrissen; und doch hat
die Begeisterung Christi höchste Cultur-
ideen der folgenden Zeiten heraufgebracht.

Christus-Dionysos heisst der Begeisterer
der neuen kommenden Ära; die grosse
Güte in der grossen Grausamkeit. Der
heilige Rausch, der liebt und hasst in
einem, der aus Mitleid tödtet, der ver-
nichtet, um neu zu erzeugen; die ewig-
eine kreisende Welle des Weltalls.
Diese Idee heisst Christus-Dionysos. Ein
Symbol für das ewig zeugende Weltge-

schlecht. Diese Idee wird die Erahner
der neuen Cultur begeistern, diese Idee
wird die neuen Menschen heraufsehnen,
sie ist die Morgenröthe vor dem neuen
Mittage der Menschen.

Diese Idee war schon der Begeisterer
für die erste Ahnungskunst der Neuherauf-
steigenden.

Christus-Dionysos lächelte schon —
zu Zarathustra.

Das scheint mir der Grundgedanke
des Vorganges zu sein, den uns Klinger
geschildert. Nach dieser Richtung sollen
wir unser Ahnen werfen, wenn wir das
Bild begreifen wollen. Dann werden sich
auch die Bedeutungen der übrigen Figuren
von selbst ergeben, als einfache Ampli-
ficationen, Ausführungen der Hauptidee,
durchaus nicht so compliciert, wie viele
gemeint haben.

Wie dem nun auch sei, wie sehr man
die Wahrheit bei Beurtheilung dieses
Bildes wissentlich und unwissentlich ent-
stellt hat, eines ist doch symptomatisch
trotz allen Weihrauchs. Eine Anschauungs-
weise hat sich in die Gemüther geschlichen,
wie der Dieb in der Nacht, ohne Wider-
spruch auch der Allerfrömmsten blieb die
Behandlung Christi als mythologische, ergo
mythologisierbare Figur. Wer bescheiden
ist, ist auch damit schon zufrieden.


SELBSTBIOGRAPHIE.
Von PETER ALTENBERG (Wien).

In dem Februar-Hefte der »Revue
des Revues
«, Paris, erscheinen zum
erstenmale in französischer Sprache einige
Studien unseres Mitarbeiters Peter Alten-
berg
, und zugleich in der Form eines
Briefes an die französische Übersetzerin
der Studien, Magdeleine Calemard du
Genestoux, eine Biographie des Verfassers.

Wir bringen hier diesen eigenartigen
Brief:

Sehr geehrte Dame!

Hier meine kleine Biographie:

Ich bin geboren 1862, in Wien.
Mein Vater ist Kaufmann. Er hat eine

Eigenheit: Er liest nur französische
Bücher. Seit 40 Jahren. Über seinem
Bette hängt ein wunderbares Bildnis
seines Gottes »Victor Hugo«. Er sitzt
abends in einem dunkelrothen Lehn-
stuhle, liest die »Revue des deux Mondes«
und hat einen blauen Rock an mit breitem
Sammetkragen à la Victor Hugo. Nein,
einen solchen Idealisten gibt es nicht
mehr auf dieser Welt. Man fragte ihn
einmal: »Sind Sie nicht stolz auf Ihren
Sohn?!«

Er erwiderte: »Ich war nicht sehr
gekränkt, dass er 30 Jahre lang ein
Thunichtgut gewesen ist. So bin ich

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 167, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-07_n0167.html)