Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 173

Über die Forderung von sogenannten Gedanken in der Dichtung Brahms-Probleme (Schaukal, Dr. RichardGraf, Dr. Max)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 173

Text

GRAF: BRAHMS-PROBLEME.

gewohnt ist, an die Äusserung dieser
seltsamen Macht herantreten. Wie der
Spiegel die Eigenschaft besitzt, das ihm
Entgegentretende aufzunehmen und wieder-
zugeben, so gibt die Seele eines Dichters
mit dem Mittel der Worte die Eindrücke
wieder, die ihr ein Reiz verursacht.

Und wenn die Verse mancher Künstler
schwierig, räthselhaft und voll Dunkelheit
erscheinen, so mag man an die schwierige,
räthselhafte und sicher-stolze Seele dieser
Künstler denken, die sich nicht jeder
anderen Menschenseele offenbaren will.
Dass nicht jede Dichtung wie der Apfel
ist, den man nur ergreifen und anbeissen
darf, um Geschmack und Befriedigung
zu empfinden, soll man ihr nicht vor-

werfen. Es gibt Gerichte, die man erst
essen lernen muss. Und wie das Kind
allmählich nur den Raum begreifen lernt
und anfangs ganz in der Fläche lebt, so
mag sich der noch so »gebildete« Bücher-
mensch dieser unruhigen und würdelosen
Zeit sagen, dass auch er erst seine an
Alltäglichkeiten und Traditionen abge-
stumpften Organe höheren Dimensionen
anpassen gelehrt werden muss, ehe er
den ganz unwillkürlichen Äusserungen
höher gearteter, ernster Künstler als ein
Berufener sich nähern darf, Künstler, denen
sich ein Sinn erschliesst aus Zeichen, in
denen er nur stumme, dumpfe Thatsachen
zu erblicken gewohnt war.


BRAHMS-PROBLEME.
Von Dr. MAX GRAF (Wien).

Jenseits des Journalismus beginnt die
moderne Cultur. Ich meine hier Jour-
nalismus im weitesten Wortsinne: die
Form der Lebensführung, des Denkens
und Kunstempfindens der bürgerlichen
Welt. In der Lebensführung zeigt sich
der Journalismus als gänzlicher Mangel
jedes Hintergrundes im Leben. Als Mangel
jedes religiösen oder metaphysischen
Empfindens, jedes persönlichen Erlebens,
jedes Horchens auf innere und äussere
Stimmen, jeder Einkehr und jedes Sich-
besinnens. Im Denken als oberflächlicher
Realismus, der die Dinge so nimmt, wie
sie dem flüchtigen Blicke erscheinen und
ihren Wert nach den momentanen Be-
dürfnissen abschätzt. Im Kunstempfinden:
als Mangel jedes Fühlens der ewigen
Quellen der Kunst, die ja ein Lebendes,
das ton- oder formgewordene Blut des
Künstlers ist. Mit einem Worte, Journalis-
mus als Leben, Denken und Empfinden
ohne Perspectiven, ohne Tiefen, ohne
Ahnungen

Drei Dinge charakterisieren die moderne
Cultur. Sie ist revolutionär; da sie gegen
die furchtbarsten Machtmittel der kleinsten,
bornirtesten, verlogensten Köpfe zu kämpfen
hat. Sie ist metaphysisch; voll des Be-

wusstseins der Heiligkeit aller Dinge der
Welt und der innersten Ströme des
Lebens. Sie ist heroisch: aus einem ge-
steigerten Wertbewusstsein des inneren
Lebens heraus. Alle grossen Führer der
neuen Cultur zeigen jene Züge. Schopen-
hauer, Nietzsche, Wagner, Ibsen, Tolstoi,
Maeterlinck. Alle werden ausgezeichnet
durch den Hass und die Feindschaft der
journalistischen Welt und ihrer literarischen
Wortführer.

In der Geschichte der modernen Cultur-
bestrebungen spielt Johannes Brahms
eine eigenthümliche Rolle. Eine höchst
complicierte, tragische, sonderbare: die
umso schwieriger zu enträthseln ist, als
Brahms wortkarg und in sich verschlossen
jeder Berührung in krankhafter Scheu aus
dem Wege gieng.

Sein Werk zeigt keines jener oben-
zitierten Hauptmerkmale des neuen Geistes.
Es ist nicht revolutionär, sondern beladen
mit allem geistigen Musikempfinden von
drei Jahrhunderten. Stolz auf sein Be-
wahren alter Formen. Wie eine Festung
mit classischen Tongestalten verbarricadiert.
Es zeigt keine metaphysischen Züge: die
religiösen Werke, welche Brahms ge-
schaffen hat, sind aus einer engen Puri-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 173, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-07_n0173.html)