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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 174

Text

GRAF: BRAHMS-PROBLEME.

tanergesinnung heraus entstanden. Aus
orthodoxem Fanatismus, welcher sich nach
innen kehrt. Es ist nicht heroisch: wohl
kraftvoll; doch strömt seine Kraft nicht
nach aussen, sondern ist ins Innere ge-
wandt. Und zu all dem ist Brahms, als
einzigem modernen Künstler, die Freund-
schaft der Journalisten zutheil geworden.

In den vielen Sonderlichkeiten des
Brahms’schen Lebens ist die Freundschaft
mit Hanslick die sonderbarste Wenn
man noch einen Zweifel hegt, dass Eduard
Hanslick zu den Werken von Brahms
kein unmittelbares, intuitives Empfinden
hatte, so wiederlegt ihn der Satz: »Die
Brahms’schen Sachen sind uns ja nicht
alle
vom Anfang an so lieb gewesen,
aber geworden sind sie es fast alle
Man höre nur genauer: Nicht alle
Werke von Brahms sind dem kritischen
Freunde vom Anfang an lieb gewesen.
Und von diesen wurden es später doch
einzelne. Und an diesen Ausspruch ist
eine Fülle überlegter, skeptischer, wider-
williger Lobesäusserungen anzuschliessen.
Unter diesen jene, welche das ungarische
Violinconcert von Joachim über das
Brahms-Concert stellt, »dessen grossartiges
Pathos und erstaunliche Kunst doch zu
sehr des sinnlichen Reizes und der ein-
leuchtenden Klarheit entbehrt«. Wusste
Brahms aus solchen Worten nicht, dass
ihn dieser nur benützte, um dem verhassten
Wagner einen Gegenpapst entgegen zu
stellen? Ich glaube, er wusste es; und
dass er kein Wort sagte, führt auf die
tragische Unredlichkeit im Leben von
Johannes Brahms, aus der ich mir die
Widersprüche seines Werkes erkläre.

Brahms, wie er in seinen ersten Werken
erscheint, ist eine sympathische Romantiker-
erscheinung, männlich, energisch, fest zu-
greifend: wenngleich sich schon in seinen
Anfängen Widersprüche und Compliciert-
heiten zeigen. Diese sind: auf der einen
Seite ein Streben nach kosmischer Um-
fassung der alten Tonformen. Während
die Interessen der übrigen Romantiker nur
den Kreis der classischen Meister um-
spannen — wenn auch schon Bach im Hinter-
grunde erschien — sind seine viel grossar-
tiger: gewisse Takt- und Ausdrucksformen
der Niederländer des 16. Jahrhunderts ver-
wendet er zum erstenmale mit imposanter

Sicherheit. — Auf der anderen Seite eine
Sehnsucht nach primitivem, einfachem,
naivem Ausdrucke der Musik, wie ihn das
deutsche Volkslied zeigt, an welchem
Brahms mit tiefster Liebe und Schwärmerei
hängt. Und: ein sonderbares Gemisch aus
Energie, Kraft, Selbstvertrauen, und Sen-
timentalität, Weichheit, Schwärmerei

Der junge Brahms ist bereits eine aus
den verschiedensten Absichten, Bestre-
bungen, Neigungen complicierte Natur,
welche die grössten Gegensätze verbindet:
Cultur und Naivetät, Kunst und Natur,
Härte und Weichheit. Eine Natur in
derem Innern die Möglichkeit der stärksten
tragischen Conflicte bereits ruht; die aber
noch kraftvoll, energisch, voller Jugend-
kraft nach aussen greift. So kam Brahms
in den Kreis der Romantiker.

Er war ihnen in jedem seiner Züge
innerlich verwandt. In dem Träumen von
grossen Formen und einem grossen Stile
der Musik. In der Treue zu der Tradition
und den deutschen Meistern. In der Liebe
des deutschen Volksliedes. Noch mehr
aber in dem Zwiespalt seines Wesens, der
edlen Melancholie, welche auf eine Disso-
nanz zwischen den Fähigkeiten und den
Absichten weist, den vielfach sich kreu-
zenden Instincten seines Inneren. Die
Musik des blonden Johannes musste auf
die Romantiker einen tiefen Eindruck
machen. Neben der jugendlichen Musik
Mendelssohns, der femininen Chopins, der
kindlichen Schumanns trat seine Kunst
charaktervoll, männlich und energisch auf.
So ist leicht der überschwengliche Ton
des Manifestes zu verstehen, mit welchem
Schumann Brahms als neuen Beethoven
und Kronwerber der Zukunft verkündete.

In diese hoffnungsvolle Zeit, in welcher
Schumann proclamierte, dass in Brahms
einer erschienen sei, »der den höchsten
Ausdruck der Zeit in idealer Weise aus-
zusprechen berufen sei«, fallen die ersten
grossen künstlerischen Siege Richard
Wagners. Man hat wohl den Einfluss
dieser Ereignisse auf Brahms zu leugnen
versucht. Allein es gab nicht einmal einen
einzigen Philister in Deutschland, welcher
nicht, durch die Agitationskraft jener
Werke aufgeregt, instinctiv nach seiner
Weise auf jene neue Kunstwelt reagiert
hätte. Es gab umsoweniger einen begabten

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 174, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-07_n0174.html)