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Musiker, welcher nicht innerlich auf Wagner
hörte und sich durch Wagner bereicherte
(Smetana, Cornelius, Bruckner, selbst
Verdi), weil er in ihm die Kraftquellen des
neuen Geistes fühlte Wenn wir
es heute nicht aus den verschiedensten
Mittheilungen wüssten, dass Brahms jener
grossen Musik wie einem überwältigenden
Reize zugehört hatte, so dürften wir es
aus der Schroffheit schliessen, mit welcher
er sich von derselben äusserlich abgewandt
hat; aus der Gewaltsamkeit, mit welcher
sich Brahms in den Kreis der alten
Meister förmlich verschanzte. Alle Disso-
nanzen seines Wesens wurden in dieser
Zeit laut. Es zeigte sich, dass der blonde
Johannes keine freie, kräftige, feste Natur
war. Er hatte Schwächen, wunde Winkel,
Eitelkeiten und krankhafte Empfindlich-
keiten seines Organismus zu verbergen;
sonst hätte er die neue Kunstwelt in sich
aufnehmen, umgestalten müssen, statt
sich trotzig, als ob er etwas zu verlieren
fürchtete, von ihr abzuwenden. Denn für
die Frage der Selbständigkeit der schö-
pferischen Kräfte ist es gleichgiltig, ob
sich der Künstler an Bach und Händel
verliert oder an Wagner. Entscheidend
ist nur die Organisationskraft, mit welcher
diese Elemente zu neuem Schaffen um-
gewandelt werden.
Von dieser Zeit an, in welcher sich
Brahms voll heimlicher Scham, die Wunden
seines Inneren zu entblössen, voll ver-
zweifelten Trotzes, sich zu bewahren, sich
von den Quellen jeder modernen Kunst
abwandte, war er ein innerlich kranker
Mann. Er war in den Entwicklungs-
kämpfen des neuen Geistes ein moros
beiseite Stehender, in sich versponnener
Junggeselle der Musik. Ein stiller Mensch,
der Schweres in sich herumtrug, alle
Zukunftsmöglichkeiten und Zukunftskräfte
seiner Seele unfruchtbar bewahrte, eifrig
vor fremden Blicken hütend, und mit
energischer Kraft als Arzt sein Inneres
stets controlierte, beobachtete, hegte und
schützte. Aus diesem stets reizbaren Inneren
entstand eine merkwürdige Kunst. Äusser-
lich kraftvoll, energisch, zurückhaltend und
gross; innerlich weich, sehnsüchtig, müde,
wund, zart. Werke, die episch oder lyrisch
mit fester Hand aufgebaut sind, innerlich
tiefe Tragik bergen
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Als innerlich-schuldvoller Mann liebte
Brahms die schuldlosen Geschöpfe des
Lebens: Kinder — als friedloser Mensch
den Frieden der Natur. In seinem grössten
Werke schildert er das tragische Geschick
der Menschen, die wie Wasser von Klippe
zu Klippe geworfen werden und das selige
Glück der Unsterblichen: mit jener er-
greifendsten Sehnsuchtsmelodie, welche
das Werk einrahmt, die wie keine zweite
frei aus seinem Innern gequollen ist. Und
keiner konnte wie Brahms, als er vor
dem Tode stand, jene ernsten Gesänge
schreiben, auf welchen der gebrochene
Blick eines resigniert Sterbenden liegt,
welcher sich abseits des Lebens in stiller
Sehnsucht, Trauer, Arbeit und Scham
dahingeschleppt hat.
Brahms ist nicht, wie jeder echte
Künstler, aus sich heraus-, sondern in
sich hineingewachsen. Das tragische Er-
lebnis seiner Seele hat sich in seinem
Inneren nicht organisiert und neuen Ent-
wicklungen Raum gegeben, sondern hat
einen Krebs, eine offene Wunde zurück-
gelassen, welche alle Lebens- und Empfin-
dungskräfte zur Abwehr, zur Heilung, zum
Kampfe zwang. So zeigte sich am deut-
lichsten, dass jene Abkehr, mit welcher
er sein Künstlerthum bewahren wollte,
eine äusserliche, künstliche, mechanische
war. Keine organische, sondern eine künst-
lerisch unmoralische, welche den Gang
der ganzen inneren Entwicklung hemmte.
Deshalb hat Brahms ein künstlerisches
Einsiedlerleben geführt, an dem er — wie
seine Werke zeigen — schwer, aber mit
grösster Kraft getragen hat.
Die künstlerische Unehrlichkeit, welche
darin lag, dass Brahms sich künstlich von
den grossen Quellen der modernen Kunst
abkehrte, hat sich an seinem Werke ge-
rächt, welches krank, lebensunfroh, müde
und mit künstlicher Energie bewahrt, da-
steht. Die menschliche Unehrlichkeit hat
sich darin gerächt, dass Brahms einen
kunstfeindlichen Geist des Journalismus als
kritischen Freund an die Seite bekam,
der Brahms an seiner tiefsten mensch-
lichen Schwäche zu packen wusste, als
er den — seiner Natur tief feindlichen —
Künstler dazu ausersah, ihm als Gegenpapst
gegen den musikalischen Repräsentanten
der neuen Zeit zu dienen.
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