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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 192

Text

MEYER-FÖRSTER: LEBEN.

»Gehen Sie!« murmelte sie, und schob
ihn sanft, fast ohnmächtig zurück. —
»Es ist zu viel.«

Er kniete an ihr nieder, küsste ihre
Hände, ihr Kleid, wie er noch nie bei
einer Frau gethan hatte. Sie war matt
und bleich, einer Ohnmacht nahe, und ihn
erfasste Mitleid, wie mit einem gequälten
Kinde. »Ja, ruhe jetzt — ich will geh’n!«
sagte er. Er bettete sie auf die Chaise-
longue, und schraubte die Gasflamme
niedriger. Dann gieng er, den Blick auf
sie gerichtet, rückwärts der Thür zu. Ihr
fassungsloser Blick hielt ihn noch immer.
Erst als die Thür sich hinter ihm schloss,
fielen ihr matt und schwer die Lider
zu. So lag sie, in wacher Betäubung —
stundenlang. — — —

Am nächsten Tage war sein erstes
Beginnen, sich an zuverlässiger Stelle
nach dem Gatten der eroberten Frau zu
erkundigen. Was er hörte, stimmte ihn
ziemlich nachdenklich. »Von Brockwitz,
Freiherr, Oberst und Commandeur des
*ten Garde-Uhlanen-Regimentes, Inhaber
des königlichen Kronenordens zweiter
Classe mit Schwertern am Ringe, ehemals
berühmter Herrenreiter, bekannt durch
verschiedene scharfe Duellaffairen.« — —
Er hatte zuerst über die Reichhaltigkeit
dieser Auskunft wie über eine gute Anec-
dote lächeln wollen; Donnerwetter! Das
war ja eine umfangreiche Speisekarte!
Aber das Lächeln blieb ihm schliesslich
stecken. Ziemlich in sich gekehrt, gieng
er aus dem Café, in dem er sich bei ein
paar bewanderten Reportern die Auskunft
geholt hatte, nach Hause. — — —

Es war ein trüber, grauer Regentag,
und er, der am vorhergehenden Abend
im Salon der Frau Grannier geblendet
hatte mit seinem Sinnen- und Geistes-
feuer, fühlte sich jetzt als ein recht nüch-
terner, desillusionierter Tagesmensch. Das
war der Fluch dieses Daseins zwischen
den Polen des Höchsten und des Ge-
meinsten, dem Extract der Kunst und
dem niedrigen Broterwerb: er musste jetzt
hingehen und Feuilletons zusammenleimen.
Er hasste in diesem Moment seinen Schreib-
tisch, seine gottverlassene Bude und die
Atmosphäre des elend Kleinbürgerlichen
in seinem Quartier. Und als ihm die
Wirtin nun mehrere Briefe hereinbrachte,

Hiobsposten, sämmtlich Rechnungen, ab-
schlägige Nachrichten, Anfeindungen, da
war es mit seiner Geduld zu Ende. Er
schleuderte den Kram in eine Ecke und
mit verbissenen Zügen gieng er auf und
ab. Ah, ein bedrecktes Leben, beim
grossen Gott! Recht eingerichtet zum
Schwärmen und einer »feudalen« Ma-
jorsfrau nachzulaufen! Nein, dann nur
lieber wieder ’runter zu den Bühnen-
mädeln, diesen armen, verlorenen Teufeln
gleich ihm, zum Café chantant und zur
Strassenliebe! Mochten Sportsdamen hun-
gern, er selbst wurde ja auch nicht satt.
Und wüthend und aufgeregt redete er sich
hinein in eine finstere Demokratenstim-
mung. Adeligen Weibern die Zeit ver-
treiben! Er, der ums liebe Leben Feuille-
tons zu schustern hatte, die Spalte zu
zehn Mark! Er dankte schön dafür! Er
war im Rausch gewesen, gestern Abend —
einfach. Er hatte einfach keine Zeit
heut mehr. — —

Und er that aufgeregt, je mehr er
fühlte, dass er ruhiger wurde. »Ach, nur
zufrieden lasst mich alle miteinander, der
Oberst Freiherr von Brockwitz an der
Spitze! Ich schlage mich nun mal nicht
gern! Ich habe nichts als dies bischen
schäbige Leben. Das kann ich unmöglich
dem Könige geben!« — Er setzte sich
nieder in das rothe Plüschsopha, vor den
entsetzlichen, runden Mahagonitisch, und
nun lächelte er über sich selbst.

Und der Regentag gieng dahin.

Es kamen Frühlingstage, und dann
der Sommer, und wieder folgte die Saison!

Frau Grannier öffnete ihres Hauses
Pforten, und die abenteuernde Welt gieng
bei ihr wie ehedem aus und ein.

Schöne Mädchen tauchten dort auf
und lauschten mit gläubigen Augen den
funkelnden Sentenzen und den Musik-
accorden, die über sie hinrauschten.

Und die männliche Künstlerschaft der
Hauptstadt kannte kein angenehmeres
Haus, als das der Frau Grannier.

In einem ganz anderen Kreise, in dem
Cirkel der Officiersfamilien des * Garde-
Uhlanen-Regimentes war und blieb die
Saison für diesen Winterzeitraum todt.

Ein düsteres Ereignis hatte die Tanz-
freudigkeit des Cirkels momentan ge-
lähmt:

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 192, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-08_n0192.html)