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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 191

Text

MEYER-FÖRSTER: LEBEN.

»Oho! — Und Du? Führst du einen
eben so ritterlichen Namen?«

»Ich heisse Utrecht Hagen Eberhard.
Wir werden beide Officiere. — Bist du
auch Officier, Onkel?«

»Nein, mein Sohn. Mit keiner Stiefel-
strippe. — Ich bin nur ein ganz gewöhn-
licher Feld- und Wiesen-Civil, Tintenklexer
und Maculaturfabrikant«. —

Sie sahen ihn verständnislos und lä-
chelnd an.

»Verbeugt Euch und wünscht dem
Herrn gute Nacht«, sagte die junge Mutter.
Ihre Stimme klang plötzlich verändert und
heiser. »Es ist Zeit für Euch, zu Bette
zu gehen.«

Sie verbeugten sich strict, und ihrem
höflichen, wortlosen Gehorsam gegenüber
empfand der Gast fast etwas wie Be-
schämung.

»Sind sie immer so kolossal discipli-
niert?« fragte er, als sie das Zimmer ver-
lassen hatten.

»Sie müssen es,« entgegnete die Mutter.
»Wir fordern es so, mein Mann und ich.«

Er blickte sie an, und ein bedrücktes
Schweigen folgte. Sie schien ihm jetzt
auf einmal so verändert. In dieser stra-
tegischen Umgebung hatte sie den
weichen, hilflosen Schimmer von vorher
verloren. Sie sah blond und kühl und
stumm aus. In ihren blauen Augen war
etwas Blitzendes. Das empörte ihn.

»Nun sagen Sie, meine allerverehrteste
Gnädige! Zu welchem Zwecke haben Sie
mich eigentlich so hier mit herauf gelootst?«

Die formlose und unverblümte Frage,
so scherzend sie gehalten schien, durch-
schnitt die peinliche Stille mit feindlichem
Ausdruck!

»Weil ich Sie für höflich und liebens-
würdig hielt, Herr Doctor,« entgegnete
die junge Frau, indem sie sich erhob.
Ihre Augen standen voll Thränen, um
ihren Mund war ein nervöses Zucken.
»Mir graute vor dem einsamen Abend.
Noch nie war ich in dieser grossen Woh-
nung, seitdem wir hier draussen auf dem
Lande wohnen, allein. Ich bin albern,
furchtsam.«

»Sie, eine Amazone?«

»Ja, ich!« Wieder lächelte er, und
dieses Lächeln brachte sie ausser Fassung.
»Ich hielt Sie für höflich,« stotterte sie

ein zweitesmal hervor, »für liebens-
würdig!« Sie hatte sich hilflos gesetzt,
und wie vorher im Salon, unter den Blicken
der vielen fremden Männer, krampften
sich wieder ihre Hände in kindlicher
Fassungslosigkeit um einander, »Ich hätte
Sie nicht heraufbitten dürfen. Aber ich
fürchtete mich so« — —

»Nein, sagen Sie doch die Wahrheit!«
rief er, bebend vor Ungeduld, indem er
auf sie zutrat und heiss ihre Hände er-
griff. »Nicht Furcht war es, was Sie zu
einem fremden Menschen trieb — Sie
sind ja elend, — kreuzelend in dieser Um-
gebung, zwischen diesen Pferdebildern. —
Zum erstenmale in Ihrem Leben haben
Sie eine andere Atmosphäre eingathmet —
heute — in jenem Salon — Sie haben
Leute reden hören und die Huldigungen
von Leuten entgegengenommen, deren
Bilder und Bücher oder deren Musik Sie
von Ferne geahnt haben — zum ersten-
mal waren Sie nicht unter Officieren!
Sie haben ein Stück ins Leben hinabge-
blickt, dort wo es am buntesten ist —
und am verderblichsten. Hüten Sie sich!
Sie sind nicht blond und keusch! Sie
sind ein muthiger Lebensrenner — sehen
Sie, ich werde sportlich, wie Sie — aber
die Jahrhunderte haben Ihnen die Candare
angelegt. — Schütteln Sie ab, nicht für
mich — aber fürs Leben! Leben Sie
denn

Er hatte ihren Kopf emporgerichtet,
und blickte in ihre Augen, die sehnsüchtig
und gross und brennend geworden waren
unter seinen Worten; von masslosem
Staunen voll. »Leben Sie denn?« wieder-
holte er fast drohend. Und als sie nicht
antwortete, sondern weiter so fassungs-
los in seine Augen starrte, riss er ihren
Kopf an seine Brust. Er küsste sie nicht,
er genoss einen tieferen Schauer. Er
fühlte die Auflösung ihres ganzen, bis-
herigen Daseins an seiner Brust. Er
empfand es mit noch nie gefühlter Freude,
wie ein Menschengeschick sich loslöste
aus seinen Erdenfasern und Heimat suchte
an seinem Herzen. Gebar er nicht dieses
arme, zitternde, stumme und selige Ge-
schöpf? Setzte er es nicht erst ein im
Leben? War das nicht eine Seligkeit,
höher, feiner, concentrierter als alle Liebes-
seligkeit der Welt??

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 191, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-08_n0191.html)