Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 193

Leben Der Lebensabend einer Idealistin (Meyer Förster, ElsbethHartstein, B. v.)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 193

Text

HARTSTEIN: DER LEBENSABEND EINER IDEALISTIN.

Die jugendliche Frau des Comman-
deurs von Brockwitz hatte sich erschossen.

»In einem Anfall von Geistesgestört-
heit.« — Ja. — Sie war über Nietzsche,
Tolstoi, Björnsen und Strindberg ge-
rathen, die letzte Zeit; das hatte sie
total verrückt gemacht. Die sollten polizei-
lich verboten sein, von rechtswegen. Gift,
Mord, Zersetzung für die »unbeherrschte
Phantasie« — — — — — — — —



Die kleinen, militärischen Herrchen,
die Waisen der Villa draussen an der
Chaussee wurden mit ihren blassen Locken-
köpfchen gar oft einträchtig an dem
grossen Fenster über dem stillen Vorgarten
gesehen.

Sie salutierten, die Hand an den
Schläfen, wenn ein befreundeter Officier
vorübergieng. Und wenn Papa nach Hause

kam, gebeugt, das blonde Gesicht in
düstere Falten gepresst, aufrecht und
säbelklirrend, dann sprangen sie gleich-
zeitig von ihrem Platz auf dem Fenster-
tritt auf, und stellten sich in militärischer
Subordination zur Begrüssung nebenein-
ander im Corridor auf.

Dort hieng noch Mamas grosser,
weicher Abendmantel, den niemand von
der Stelle nehmen durfte, und auf den
der Vater jedesmal mit einem dumpfen
Ton aus seiner Brust Mütze und Säbel
hängte. —

Sie aber, sie beide, küssten hundertmal
in unbewachten Augenblicken Mamachens
lieben, todten Mantel, der noch nach
ihrem Wesen duftete. —

Und erst zu Ostern wanderten sie von
diesem Mantel fort, ins Bensberger Ca-
dettenhaus.


DER LEBENSABEND EINER IDEALISTIN.*
Von B. v. HARTSTEIN (Baden).

Wie eine Botschaft von einem anderen
Ufer, mit dem der Verkehr schon lange
abgeschnitten ist, kommt uns Malwida
von Meysenbugs letztes Buch, von einem
Ufer, wo heitere Greise in ewig lächelnder
Jugend, unter warmgrünen, schlankge-
stielten Palmen wandeln, und wo das reine
Sonnenlicht klar und gleich über die
glitzernden Kanten weissmarmorner Tempel-
mauern streicht. Man glaubt, sich dem
fernen Ufer selbst zu nähern, selbst dort
zu sein, mitten unter all dem Grossen und
Fremden. Und wenn man länger um sich
schaut, sieht man, dass die Dinge nicht
fremd sind, dass es dieselben sind, die
uns sonst umgeben, der Frühling, der
Wald, das Meer, die Statuen und die
Menschen. Es ist kein fernes Ufer, es ist
die Welt, in der wir leben, unsere Ge-
danken, die nach Gestaltung ringen,
aber von ferne wiedergespiegelt in dem
grossen, klaren Auge der jung-greisen
Idealistin, die Contouren, die sich sonst
in schillernder Lichtbrechung verwischen,

festgehalten in reinen, classischen Linea-
menten.

Bis in ihr höchstes Alter — ihr
jüngstes Werk veröffentlicht die Schrift-
stellerin als achtzigjährige Frau — bewahrt
sie sich ihr jugendfrisches Temperament,
ihren rastlosen Wissens- und Schönheits-
durst. Die Gedankenwelt ist ihr Element,
Philosophieren die unaufhörliche Bethäti-
gung ihres Geistes, dessen Erholung und Ver-
jüngungsmittel, wie sie es selbst in folgenden
Worten bekennt: » Mich hat dies
alles, dieses viele und traurige Trennen,
sehr angegriffen und ich rufe mit aller
Inbrunst den heitern Intellect zu Hilfe,
denn in diesen Tagen empfand ich es
noch recht lebhaft, wie nur der Intellect
heiter ist. Er ist das solarische Gebiet;
das andere, das tellurische, der Wille, ist
das Dunkle, das Schmerzbrütende, Qualen-
spendende; ich will sehen, ob es mir ge-
lingt, mich mit Hilfe des Intellectes oben
zu erhalten über allem, was in der letzten
Zeit mich wieder betrübt und bedrückt

* Malwida von Meysenbug, der Lebensabend einer Idealistin. 1898, Schuster & Loeffler,
Berlin und Leipzig.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 193, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-08_n0193.html)