Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 195

Der Lebensabend einer Idealistin (Hartstein, B. v.)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 195

Text

HARTSTEIN: DER LEBENSABEND EINER IDEALISTIN.

in der Musik, wie Michel Angelo in der
bildenden Kunst. Die Ähnlichkeit ist sehr
gross. Es ist eine Art krampfhaftes Ringen
in dem Leben dieser zwei kolossalen
Künstler. Die reine Linie der Schönheit
war erschöpft in Raphael, Mozart, Bach,
Beethoven. Jene zwei Grossen sahen noch
etwas Grösseres und versuchten es mit
irdischen Mitteln auszusprechen und zu
erreichen.«

Ebenso hoch wie als schaffender
Künstler steht in Malwida von Meysen-
bugs Meinung Wagner als Mensch. Sie
stand mit ihm und seiner Familie in
freundschaftlichstem Verkehr und das Hei-
ligthum von Bayreuth hat keinen wär-
meren Apostel als sie.

Am sympathischesten und klarsten
äussert sich die Individualität der Schrift-
stellerin überhaupt, wenn sie über be-
deutende Menschen und ihren Umgang
mit solchen spricht. Für die Pionniere
grosser Ideen begeistert sie sich wie für
diese selbst. Die Vorkämpfer des einigen
Italiens sind ihre Helden. Es genügt ihr
nicht, sie aus der Ferne zu bewundern,
sie sucht ihnen persönlich näher zu treten.
Ihr herzlicher Verkehr mit vielen hervor-
ragenden Persönlichkeiten, über den sie
in ihrem jüngsten Werk allerhand Intimes
berichtet, beleuchtet vielfach ihren eigenen
Charakter. So was sie von Garibaldi,
Mazzini, Minghetti erzählt, von Nietzsche,
den sie als Charakter liebt, als Philoso-
phen fürchtet, von Liszt, Fürstin Caroline
Wittgenstein, Warsberg.

Auch in der Vergangenheit sind es
die Menschen mehr als die Ereignisse,
die sie fesseln. Gelegentlich einer Reise
durch Oberitalien forscht sie in den ver-
schiedenen Städten den Spuren berühmter
Männer und Geschlechter, die sie hervor-
brachten, nach, und man fühlt deutlich
ihre Befriedigung, wenn sie ein Stückchen
selbstentdeckter historischer Wahrheit zu
erzählen hat. Tizians an Perikles ge-
mahnendes Schicksal ergreift sie und zieht
sie an. In Rimini verfolgt sie das Ge-
schlecht der Malatesta, das so viele merk-
würdige Gestalten hervorbrachte, jenes
Geschlecht, dem eine der schönsten und be-
kanntesten Stellen der »göttlichen Komödie«
gewidmet ist. — Malwida von Meysenbug

weilt in Rom. Dort, in diesem Emporium
der Natur und Kunst, lebt sich ihre Per-
sönlichkeit aus, dort saugt sie durstig die
Schönheit, die Stimmungen der Natur ein.
Die alte germanische Sehnsucht nach dem
blauen Süden fesselt sie an das Italien
Goethes und Winkelmanns, das sie nur
verlässt, um im nebligen Norden — der für
sie schon jenseits der Alpen anfängt —
Menschen, die ihr theuer sind, aufzusuchen.
Wirklich hinreissend in ihrer Gefühlswärme
sind die Schilderungen ihres Entzückens
über die Abende in Sorrent, in Venedig,
voll Poesie und unvergänglicher Jugend-
kraft des Gemüthes.

»Es gibt Dinge in der Natur, deren
Anblick beinahe auf uns wirkt, wie ein
grosses Ereignis, die uns befreien von
der Last der persönlichen Existenz, indem
sie uns dem Unendlichen, dem univer-
sellen Dasein vereinen. So ist das Meer.«

Keine der modernen Fragen geht an
Malwida von Meysenbug vorüber, ohne
dass sie sich mit ihr auseinandersetzen
würde. Ihr Werk wäre sonst nicht voll-
kommen und wir würden es thatsächlich
als Lücke empfinden, wenn sie den An-
schluss an die Frauenfrage versäumte. Der
gilt denn auch ihr wärmstes Interesse und
sie, die Hochbegabte, kann nicht anders,
als die geistige Emancipation ihrer Ge-
fährtinnen wünschen.

Sie vertieft sich in die Probleme Ibsens
— dessen persönliche Bekanntschaft sie
auch einmal gemacht — und wirft ihm
nur vor, mitunter zu »pathologisch« zu
werden.

Die Schriftstellerin schliesst mit einem
Lebewohl an die Welt. Eine streitbare
Idealistin, will sie die reichen Schätze
ihrer Weltanschauung nicht mit sich fort-
nehmen; sie will sie der Menschheit, die
sie in Verworrenheit, in verzweifeltem
Kampfe nach wertlosen Gütern zurückzu-
lassen meint, vererben, und indem sie
ernste und milde Worte der Warnung
und Ermunterung herüberruft, scheint sie
nach ihrem blauen Ufer zurückzukehren.
Aber wir glauben es nicht ganz. Malwida
von Meysenbug ist nicht bloss die Älteste
und Weiseste von uns, sie ist auch die
Jüngste. Wer so jung ist, wie sie, kann
nicht auf immer Abschied nehmen.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 195, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-08_n0195.html)