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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 196

Text

PELLEAS UND MELISANDE.
Von RAINER MARIA RILKE (Schmargendorf bei Berlin).

Als im vorigen Jahre in einer Matinée
der dramatischen Gesellschaft Maeterlincks
»L’intrus« gegeben wurde, vollzog sich
die Handlung wie ein Mysterium und vor
Eingeweihten. Heuer erfuhr »Pelleas und
Melisande« eine Aufführung, die ohne alle
Seltsamkeit verlief und einen jener ge-
wöhnlichen Erfolge erwarb, welche sich
nur in herkömmlichen Phrasen constatieren
lassen. Der Prophet der Wenigen ist vor
den Vielen zum beliebten Sonderling ge-
worden, dessen Launen man unterstützt
und dem man selbst ein wenig Eigensinn
lächelnd hingehen lässt. In dieser Weise
schützt sich die Menge vor der Furcht-
barkeit der Einsamen. Sie nimmt theil
an ihnen, ergreift von ihnen Besitz, wie
von einer Ernte, die keinem gehört und
gibt ihnen gerne den täglichen Ruhm
und die vergessliche Ehrfurcht.

Ich glaube indessen, dass Maeterlinck
von diesen Händen sich weder halten
noch beschenken lässt; er selbst hat im
letzten Augenblick abgeschrieben: »Je suis
si sauvage, si timide « hat er geschrieben.
Und seines Werks empfiengen wir kaum
einen Hauch. Verschlossene Worte, dazu
keiner die Schlüssel besass, Namen, wie
wachsame Thürme in einem fremden
Land, und Geberden, welche die Spieler
ängstlich gebrauchten, wie Waffen, deren
Gefahr sie nicht verstehen, oder wie Ge-
wänder, die sie nicht zu tragen wissen.
Das war auf der Bühne ein beständiger
Kampf mit diesem Drama, das sich nicht
hergab, das plötzlich aus den Worten
floh und sich vor den Virtuosen und
Komödianten verbarg im Dunkel des Ge-
fühles, aus welchem es einmal entsprang.
Denn jedes tiefe Kunstwerk hat eine
solche Zuflucht, und seine strahlenden
Monstranzen warten in vergessenen Ge-
wölben, bis die Schritte des plündernden
Pöbels wieder verhallt sind.

Maeterlinck begleitet seine Stücke nur
mit den nöthigsten Bemerkungen. Er
gibt ihnen nicht viele Rathschläge auf
die Bühne mit und sie sind wehrlos gegen
die Anordnungen des Regisseurs, und die
Auffassungen der Schauspieler zerreissen
ihnen das Herz. Maeterlinck denkt nicht
an diese Gefahren. Er kennt kaum die
starre Convention der modernen Bühne
und die Unentschlossenheit der Darsteller,
welche zwischen dem Pathos, das sie nicht
vergessen können, und der Einfachheit,
für welche ihnen die Mittel fehlen, hin
und herrathen. Diese ganze selbstgefällige
Kunst des Details, in der die modernen
Schauspieler sich üben, kann den Gestalten
Maeterlincks nichts bedeuten. Ein kleines
Lächeln, eine verlorene Geberde, die der
Zuschauer nur mit dem Opernglas auffangen
kann, vermag ihr Wesen ebensowenig zu
ergänzen, wie die einzelne Blüte im tau-
sendfältigen Feld nicht imstande ist, die
Landschaft mit ihrer Eigenart zu charak-
terisieren. Wie sie sich zu einander be-
wegen, sich näher kommen und vor
einander flüchten, das soll der Ausdruck
seiner Gestalten sein; denn in ihren
Beziehungen liegt ihr Schicksal
.
Das Fernhinsichtbare an ihnen ist ihr Dra-
matisches. Das Bühnenbild hat bei Maeter-
linck niemals in dem Rahmen des Opern-
glases Raum. Es bleibt breit, und mit
seltsamer Brüderlichkeit soll der Thurm
und der Baum neben dem Helden wirken,
und jedes Geräth und jedes Geräusch soll
seinen Sinn behalten und erfüllen. Es
handelt sich für den einzelnen Darsteller
darum, Umrisse zu geben, die Grenzen
seiner Gestalt zu betonen, nicht ihren
Inhalt. Er darf nicht auffallen, sich nicht
durch seine Einzelleistung isolieren, er
muss spielen, wie mit verhülltem Gesicht,
demüthig in dem Gedränge der Gestalten,
die einander bange begegnen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 196, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-08_n0196.html)