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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 197

Text

RILKE: PELLEAS UND MELISANDE.

Das auf der Bühne war eine recht
lückenhafte Bilderfolge, deren Zusammen-
hang man nur mühsam begriff. Wer nach-
her das Buch zur Hand nahm, konnte
feststellen, dass gleich die erste Scene
fortgefallen war. Und den langen Strichen
war das ganze Stück entlang alles erlaubt.
Das Wenige, das die Verheerung über-
stand, wurde von der Regie zum ersten-
mal, gleich drauf von den Schauspielern,
und endgiltig und gründlich vom Publi-
cum missverstanden, so dass uns von
Maeterlincks Absicht etwas wie eine dunkle
Überlieferung gegeben ward. Ein Eifer-
suchtsdrama von etwas altmodischer Form,
eine Minne, die Mord und Mühsal wird,
eine Schwäche, die uns nicht ergreift und
eine Gewaltsamkeit, die sich gerne als
Stärke geben möchte. Und im Buch von
alledem keine Spur. Dort erfüllt sich ein
Schicksal dunkel und ruhig:

In einem Schloss und in dem Garten,
der es umrauscht, wohnen stille Gestalten.
Sie sprechen leise von einem Kranken, der
in einem der vielen Zimmer wartet, ob
er sterben muss. Alle lauschen ehrfürchtig
auf diese Entscheidung. Sie leben lautlos
nebeneinander hin und sind vereint nur
in der Furcht des Gefühls. Sie sind nicht
glücklich gewesen vor dieser Zeit, und sie sind
nicht trauriger geworden durch die Angst.
Sie haben nur gelernt, hinauszuhorchen
auf das, was durch die weiten Wälder
kommen kann und durch die endlos kalten
Gänge. Ihr Lauschen macht diese Menschen
wehrlos, es wird ein Ruf nach dem Unbe-
kannten. Golaud, der dunkle, führt es ins
Schloss: es ist ein blasses, fremdes Mäd-
chen, das einmal eine Krone verloren hat.
Der finstere Prinz macht sie zur Mutter
seines verwaisten Sohnes. Und er selbst
will festlich einziehen in die kleine,
lichte Melisande, wie in ein neues
Reich. Aber die silbernen Thüren ihrer

Seele wehren seinem Ungestüm. Da zeigt
sein Söhnchen ihm, wie diese Pforten auf-
gehen vor des blonden Pelleas gefalteten
Händen. Und da tötet der wilde Golaud
den Bruder Pelleas »weil es so Brauch
ist«. Die Waffe streift Melisanden. Sie
lässt leise ein frühes Kind ins Leben
gleiten, wie ein Rettungsboot, darin sie
das Niegelebte geborgen hat. Dann geht
sie unter, stirbt am Staunen über alles das.

Der alte König Arkel sieht ihr sinnend
nach. Wie eine ferne Erinnerung rührt
ihn das Schicksal an. »Du bist nicht
schuld« — damit zieht er den dunklen
Golaud zur Thüre, denn: »wir wollen
nicht hier bleiben«. Wir können ja nicht
antworten auf das hier. Ich bin alt, ich
habe fast alles gesehen, und ich kann
doch nicht antworten. Ich weiss: man
kann das Leben nicht erkennen und ent-
hüllen. Man kann es nur — überdauern. —
So König Arkel.

Aber nicht Maeterlinck hatte das letzte
Wort neulich bei der Matinée, sondern
Maximilian Harden, dessen Conférance
der Vorstellung nachfolgte, statt sie —
wie es ursprünglich beabsichtigt war —
einzuleiten. In seinen Bemerkungen war
mehr vom Geiste Maeterlincks, als in dem
unkenntlichen Werke. Er konnte freilich
die Persönlichkeit des Dichters nicht
zeichnen, aber er tastete seine Gestalt
entlang und berichtete, was seine Finger
fühlen. Da hätten allerdings die, welche
den »Erfolg« des Stückes besorgt hatten,
widersprechen müssen; denn es konnte
nirgens als Beweis für Hardens Aus-
führungen gelten. Aber man brachte es
zuwege, mit allem einverstanden zu sein
und durfte das Theater in guter Stimmung
verlassen: Hungrig und mit einer fertigen
Meinung.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 197, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-08_n0197.html)