Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 199

Katholicismus als Fortschrittsprincipprincip Siegfried Wagner (Graevell, Harald van JostenoodeGraf, Dr. Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 199

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RUNDSCHAU.

übt worden sind. Es hiesse das Kind mit
dem Bade ausschütten, wollte man wegen
dieser menschlichen Schwachheiten die
Religion als solche anklagen. Es ist auch
nicht richtig, alle Religionen, wie der Ver-
fasser thut, auf dieselbe Stufe zu stellen.
Das Christenthum bedeutet sicher unter
allen Religionen die höchste und voll-
kommenste, seine Moral muss den Menschen
in jedem Klima gut machen. Der Ver-
fasser hätte also nachweisen müssen, dass
dies unmöglich ist. Statt dessen eifert
er — nicht mit Unrecht — gegen bornierte
Priester, besonders gegen die Jesuiten.
Das hat aber auch schon Schell gethan,
und zwar mit anerkennenswerter Offenheit.
Daraus folgt, dass seine Schrift ganz über-
flüssig war. Ich halte sie aber auch für
direct schädlich. Sie dient nur dem Um-
sturz und der Unzufriedenheit. Es gibt
heute so viele Oberflächliche, die sich
von radicalen Phrasen, wenn sie recht
schneidig vorgetragen werden, bestechen
lassen. Solchen wäre vorliegende Arbeit

das reine Gift. Wer sich aber ernstlich mit
solchen Fragen befasst, der greift zu aus-
führlicheren Darstellungen, die mit wissen-
schaftlichem Ernste geschrieben sind. Es
ist charakteristisch für den Verfasser, dass
er nur Männer seiner Ansicht zu Worte
kommen lässt und sich nur auf sie stützt,
statt gerechterweise auch den Gegner der
Discussion würdig zu halten. Sollte ihm
z. B. das schöne Buch von Kidd »Social-
evolution« unbekannt geblieben sein, das
in England so grosses Aufsehen erregt
hat, weil es ungefähr das Gegentheil von
dem behauptet, was der Verfasser sagt.
Sollte er das grosse, im Erscheinen be-
griffene Werk seines Gegners Schell »Gott
und Geist« nicht kennen? Das sind ernste
Bücher und ernste Männer. Vor Be-
strebungen aber, wie die vorliegende, kann
das Wort von Draper gelten, das er in
seiner Geschichte des Conflictes zwischen
Religion und Wissenschaft schreibt: »Was
auf Täuschung und Trug beruht, das muss
unterliegen.«


RUNDSCHAU.

Siegfried Wagner. Als tiefer, daher
ehrfürchtiger Mensch liebte es Wagner,
den grossen Peripetien seines Lebens
symbolische Bedeutung zu geben. So
nannte er, als ihm auf der Höhe seines
Schaffens, seiner Kraft und seiner Ge-
sundheit aus neuer Ehe ein Sohn geboren
wurde, diesen: Siegfried. »Der Ring des
Nibelungen« gieng seiner Vollendung ent-
gegen; und was in dem Künstler an
Hoffnungen und Gewissheiten für die Zu-
kunft war, legte er in den Namen hinein,
mit welchem er seinen Sohn begrüsste.
»Sie hat mir einen wunderbar schönen
und kräftigen Sohn geboren« — schrieb
Wagner an Frau Wille — »den ich kühn
Siegfried nennen konnte: Der gedeiht
nun mit meinem Werke und gibt mir
neues, langes Leben, das endlich einen
Sinn gefunden hat.« Siegfried
Wagner ist vom Wiener Publicum als
Dirigent der Ouvertüre zu seiner ersten

Oper jubelnd begrüsst worden. Ein »junger
Siegfried« der deutschen Oper ist in ihm
nicht geboren worden. Eher eine Art
Parsifal, ein »tumber Thor«. Ein völlig
naiver und kindlicher Geist, welcher mit
den Problemen seines Vaters in eben-
solcher Unschuld spielt, wie mit dessen
Schöpfungen an neuen Tönen. Das
Thema seiner Ouvertüre ist eine »Erlösung
durch die Liebe«. Bei Vater Wagner
das ewige Grunderlebnis, aus welchem
alle Werke geboren sind; der furchtbare
Nothschrei einer friedenssehnsüchtigen,
gequälten, tiefleidenden Natur aus den
Tiefen schreklichster Dissonanzen und Ver-
zweiflungen. Bei Jung-Siegfried ein harm-
loses Zinnsoldatenspiel. Bei Vater Wagner
bedeutet jeder neue Accord, jede neue
Harmonie ein tönend gewordenes Erlebnis
seiner Seele und ein psychologisch ge-
schulter Hörer kann aus der Geschichte
der Wagner’schen Harmonien die ganze

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 8, S. 199, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-08_n0199.html)