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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 262

Text

VANCSA: HUGO WOLF.

Übergängen vordringt, welche ja eigent-
lich in Wahrheit das Seelenleben des
einzelnen Menschen ausmachen. So hat
für ihn der Kreis der musikalischen Lyrik
keine stofflichen Grenzen mehr. Welch
ein Reichthum jetzt gegen die Herz- und
Schmerzlyrik von einst, ja, es mag schier
unfassbar erscheinen, welcher Wandlungen
im Ausdrucke die Töne eines einzigen
Künstlers fähig sind. Gedichte, welche
früher für uncomponierbar gehalten wurden,
begannen unter seiner Zauberhand zu
klingen. So wurden Goethes schönste
und tiefsinnigste Schöpfungen, vieles
Prächtige von Eichendorff, Keller und
anderen, vor allem aber ein vordem fast
gar nicht gewürdigter, schwäbischer Dichter
von genialster Eigenart, voll Gedankentiefe,
blühendem Humor und Reichthum des
Ausdruckes, Eduard Mörike, für die Musik
gewonnen.

In der musikalischen Ausführung be-
freit er das Lied von allen Fesseln der
überlieferten Formen und verleiht ihm
durch die sinngemässe Anwendung einer
gleichfalls Wagner’schen Erfindung einen
ganz überraschenden Reichthum des Aus-
druckes. Wie in Wagners Musikdrama
das Orchester die Leitmotive kunstvoll
verarbeitet und dem Hörer damit zumeist
die innerlichen Vorgänge versinnlicht, so
führt Hugo Wolf in gleicher Absicht
charakteristische Grundmotive auf dem
begleitenden Claviere vollkommen thema-
tisch durch und gewinnt damit jene
überraschenden, feinen Differenzierungen,
von welchen ich früher sprach.

Die Singstimme vermittelt uns durch
das Wort des Dichters mehr das äusserliche
Moment, das Instrument das innerliche.

Daneben entzücken geistvolle Ton-
malereien, wie sie gelegentlich auch schon
andere Liedercomponisten, besonders Karl
Löwe, angewendet haben.

Hugo Wolfs Schaffen und Streben
wäre jedoch eitel nichts gewesen, wenn
seinem künstlerischen Wollen nicht ein
glänzendes, technisches Können, eine
unerschöpfliche musikalische Erfindungs-
gabe entsprochen hätte. Das schöpferische
Genie erhebt ihn erst zur epomachenden
Erscheinung. Wir verdanken ihm eine
Fülle von Tonbildern, die nicht schuber-
tisch
und nicht wagnerisch sind, sich

überhaupt mit nichts bereits Vorhandenem
vergleichen lassen, sondern ihm ganz allein
angehören und eine dauernde Bereicherung
der deutschen Musik bedeuten.

Hugo Wolf stellten sich bekanntlich bei
seinen ersten Schritten in die Öffentlichkeit
die grössten Schwierigkeiten in den Weg.
Geniale Eigenart wird ja seit jeher von
der grossen Menge verkannt, geringschätzig
behandelt und belächelt. Bei Hugo Wolf
kam aber noch eine Reihe anderer Mo-
mente hinzu. Die Musik bedarf vor allem
der ausübenden Künstler. Bis vor kurzem
waren diese jedoch an tiefere und ernstere
Aufgaben nicht gewöhnt. Eine schöne
Stimme und technische Schulung genügten
zum Erfolge. Im übrigen wurde die
Dummheit der Sänger als ein sprichwört-
liches, nothwendiges Übel hingenommen.
Hugo Wolf verlangt vom Sänger nicht
nur ein voll ausgebildetes, technisches
Können, sondern auch geistiges Erfassen
des dichterischen und musikalischen Ge-
haltes und, was den verwöhnten Lieblingen
des Publicums gar so schwer wird, ein
Verzichten auf den billigen Erfolg der
Bravour. Auch am Clavier darf nicht
mehr ein obscurer Dilettant oder Anfänger
als »Begleiter« sitzen, es bedarf dazu eines
dem Sänger ebenbürtigen Künstlers.

Ähnliche Anforderungen stellt Hugo
Wolf an den Hörer. Da gibt es keinen
süssen Ohrenkitzel, kein gedankenloses
Sich-Hingeben an eine unbestimmte Em-
pfindung; der Hörer soll mit dem Ton-
dichter den ganzen dichterischen Gehalt
ausschöpfen und zugleich dem thematischen
Aufbaue der Musik folgen. Wahrlich, viel
verlangt von unserem indolenten Concert-
publicum!

Es ist das bleibende Verdienst des
Wiener akademischen Wagnervereines,
der ja sein Publicum zum ernsten Genusse
der Musik zu erziehen gewusst hat, und
seines Leiters, Josef Schalk, zuerst den
Wert der Wolf’schen Lyrik erkannt zu
haben. Unbekümmert um die anfäng-
liche Sprödigkeit der Hörer und um
die Feindseligkeit der Wiener Kritik, die
den Tondichter todtschwieg oder mit ein
paar geistreich sein sollenden Witzen ab-
thun zu können glaubte, hat er im engen
und weiteren Kreise diese Werke gepflegt.
Berlin musste Österreich wieder voran-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 262, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-11_n0262.html)