Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 267

Juliane Déry »Tampete.« Von Heitmüller (Meyer Förster, ElsbethLevetzow, Freiherr Carl von)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 267

Text

BÜCHER.

die bunten Bogenfenster der stillen Matthäi-
kirche, etwas weiter die Wipfel des Thier-
gartens, hat sie sich die drei Stockwerke
hinuntergestürzt; an demselben Schreib-
tisch dieses selben Pensionszimmers, das
ich vor ihr bewohnte, sind ihre Abschieds-
briefe geschrieben. »Glücklich sein oder
sterben,« sagen ihre letzten Zeilen. »Letz-
teres ist sicherer. Ich sterbe so leicht —
als gienge es zu einem Balle, so ist’s mir.«

O, ich könnte nicht mehr durch diese
Strasse! Die Glocken der stillen Matthäi-
kirche würden »Juliane! Juliane!« läuten!
Sie würden läuten: »Warum bist Du nicht
gekommen? Nicht zur rechten Zeit?!« —

Wie eine Todesahnung ist ihr letztes
Gedicht: »Todesritt« — im »Quickborn«
neuerdings mit anderen Gaben ihrer Lyrik
erschienen, zu denen Walter Leistikow
die Illustrationen schuf. Auch den Ein-
acter: »Das Stärkere« enthält dieses
Heft, — wohl das Persönlichste, das sie

je gegeben. Beides sind noch einmal
Documente ihres heiss pulsierenden, stür-
menden Lebensdranges. Ein Roman »Die
Rosa
« — eine herzige, schwermüthige
Wiener Mädelgeschichte — ist neben den
»Pusstastürmen« das Letzte, das sie
geschaffen hat.

Eine Dichterin ist uns gestorben, eine
echte zumal, denn sie besass das Himmel-
stürmende: die Begeisterung! Seid nicht
böse und neidvoll, liebe Frauen, die Ihr
im Leben so kaltherzig auf Juliane
schautet! Nie mehr wird ihr freies, glühen-
des, so herrliches Zigeunerwesen Eure
abgezirkelten Kreise stören. Kind aus
reichem und verwöhntem Hause, suchte
sie die Arbeit und den Kampf des Lebens
auf, gab alle Vortheile eines satten und
beschirmten Daseins für das Suchen eines
tieferen Lebenszieles hin.

Wer von uns that desgleichen?


BÜCHER.

Tampete. Novellen von Franz Ferd.
Heitmüller. Berlin, S. Fischer 1899. —
Sie sind noch nicht frei und eigen, diese
Novellen, man kann sie aber auch nicht
alt und angefühlt nennen. Die Glut ist
noch nicht rein, aber sie streift die
Schlacken ab. Heitmüller ist eine Indivi-
dualität, die noch sich selbst sucht, aber
man spürt doch eine Persönlichkeit und
ein Suchen; das ist nicht wenig. In den
vier Novellen zeigt der Autor vier ver-
schiedene Milieux, die er nicht immer
erschöpfend, aber gewiss mit Talent
schildert. Es ist zweifellos viel gute
Beobachtung darin. Künstlerisch steht
wohl die kurze Novellette »Eine Himmel-
fahrt« am höchsten. Sie ist abgerundet
und in sich geschlossen; die Idee, die
ihr zu Grunde liegt, hat den Ausdruck
gefunden, der ihr gebürt. Es ist das
düstere Gemäuer des Gefangenhauses, in
das die Erzählung führt. Ungern und
scheu schleicht sich die Sonne in den
traurigen Hof und auch der Frühling
kommt nur verspätet und flüchtig zu der

alten Akazie darin. Thorwächter ist der
Tod. Denn für jeden, hinter dem das
Eisenthor in die Angeln fiel, ist alles
Leben vorbei. Ihm bleibt nur mehr ein
Scheinleben, das nicht über die engen
Zellen hinausreicht. Kein Leben mehr,
nur ein Dasein, nur die Qual des Daseins.
Hier hat der unglückliche Schmid, der
seine Frau getödtet, als er sie bei einer
Untreue überraschte, die lebenslängliche
Kerkerstrafe abzubüssen. Zwanzig Jahre
hat er auf Flucht gesonnen, weitere
zwanzig Jahre auf Begnadigung gehofft;
immer vergebens. Nun ist Sinnen und
Hoffen vorbei, wieder bald zwanzig Jahre.
Das Leben mit all seinen neuen Ideen
und grossen Erfindungen ist an ihm
vorbeigeströmt. Er gehört nicht mehr
hinein, er könnte es nicht mehr verstehen;
er sehnt sich nicht mehr hinaus, er
fürchtet sich vor der Gnade, vor dem
Leben, vor dem Frühling. Und nun die
grausam lachende Ironie: nun kommt
die Begnadigung. Mit der Eisenbahn, der
einzigen Sehnsucht, die ihn an das Leben

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 267, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-11_n0267.html)