Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 268

»Tampete.« Von Heitmüller Alfred Momberts »Schöpfung« Josef Müller: Der Reformkatholicismuscismus, die Religion der Zukunft (Levetzow, Freiherr Carl vonSchäfer, WilhelmGraevell, Harald van Jostenoode)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 268

Text

BÜCHER.

draussen knüpft, fährt er in die Freiheit,
in die Welt, in den Frühling. Aber er
hat nicht mehr die Kraft zum Leben und
stirbt auf der Fahrt. So ist dies seine
Fahrt ins Paradies. — Der Tod ist
Pförtner im Gefangenhause, er lässt
keinen mehr ziehen, hinter dem die
eiserne Pforte in die Angeln fiel. Das
ist ohne aufdringliches Pathos mit
schlichten Worten einfach und wirkungs-
voll erzählt. In der Titelnovelle »Tampete«
ist vieles conventionell. Nicht im Sinne
der Gartenlaube; aber auch im jungen
psychologischen Roman haben sich schon
Conventionalitäten herausgebildet. Dass
Heitmüller bestrebt ist, sich frei zu
machen, sieht man in den Volks- und
Wirtshausscenen, in denen er auch
das trauliche Plattdeutsch sehr gut und
charakteristisch anwendet und die Leute
so reden lässt, wie sie wirklich reden und
denken; man denkt mit Vergnügen an
Klaus Groth und unsern lieben Fritz Reuter.
Wo er jedoch an seinen westfälischen
Bauern allzu subtil herumpsychologisiert
und differenziert, wird er eben leicht
etwas conventionell und unnatürlich.
Schade, dass gerade die Volksscenen
eigentlich nur skizziert sind; in dieser
Richtung liegt Heitmüllers bestes Können.
Überhaupt scheint er mir noch ein zu
intimes Verhältnis mit der Grossmutter
Grammatik zu haben; zu viel Anfänger-
freude am wohltemperierten Satzbau. Aber
er wird schon von der alten Dame los-
kommen, denn sie redet nur viel und schön,
aber er hat etwas zu sagen.

C. v. Levetzow .

Josef Müller: Der Reformkatholi-
cismus
, die Religion der Zukunft.
Würzburg, Göbel 1899. Wenige wissen heute
schon, was man unter »Reformkatholicismus«
versteht. Sie glauben, es liege im Wesen
des Katholicismus, dass er unverändert
bleiben müsse, weil er in den letzten
Jahrhunderten in der That dem Gesetze
der Trägheit mehr gehuldigt hat als gut
war. Allein die vielen Auflagen, welche
die Schell’schen Reformschriften erlebt
haben, beweisen, dass das Publicum all-
mählich anfängt, sich um den literari-
schen Kampf zu kümmern, der in der
letzten Zeit entbrannt ist. Als Bundes-
genossen Schells sind soeben Harold

Arjuna aufgetreten in seiner wuchtigen
Reformschrift »Christlich - Germanisch!«
(Verlag von Fleischer in Leipzig) und
Josef Müller, der sich durch Studien
über Philosophie des Schönen in Natur
und Kunst u. a. bekannt gemacht hat. —
Derselbe beweist, dass die Frage der Re-
form in der katholischen Kirche zur
brennenden geworden ist. Er kämpft für
eine Durchdringung mit germanischen
Anschauungen gegen die Stagnation und
Unduldsamkeit, wie sie nur allzu oft von
dem romanisch erzogenen Clerus gezeigt
wird. Er ist im guten Sinne des Wortes
conservativ wie Schell, hat aber den
Muth, offen auszusprechen, dass der ganze
Scholasticismus unhaltbar geworden sei.
Während er im vorliegenden Büchlein
nur die theoretischen Grundlagen legt,
hat er die Absicht, in einer Fortsetzung
die seelsorglich-praktischen, Schul-, socialen
und politischen Verhältnisse ins Auge zu
fassen. Wir empfehlen ihm die oben ge-
nannte Schrift seines geistigen Mitstreiters,
der schon einen kühnen Schritt vorwärts
gethan hat, um mit längst Veraltetem
aufzuräumen.

Harald Graevell van Jostenoode .

Alfred Momberts »Schöpfung«. Ver-
lag Friedrich, Leipzig. Keine Kunstart scheint
augenblicklich weiter entfernt von Volkstüm-
lichkeit als die Lyrik. Keine ist aus ihrer Natur
auch weniger dazu berufen, von dem Liede
abgesehen, das durch die Melodie in die Herzen
geschmuggelt wird. Wenn wir unter Lyrik die
im Gefühlsergusse gegebene Darstellung der
eigenen Persönlichkeit verstehen, so ist noth-
wendig das Verständnis der breiteren Menge
zunächst ausgeschlossen, wenn es sich um eine
wirkliche Persönlichkeit unserer Zeit handelt.
Selbst dann, wenn diese gross genug ist, aus
dem Drange des Zeitlichen das Ewige in
schlichte Worte zu fassen. Die persönliche
Cultur gibt auch den einfachsten Naturlauten
einen Klang, der sie der Allgemeinheit zu-
nächst fremd erscheinen lässt.

Das gilt nun wohl für alle Kunst, weil
alle Kunst mehr oder weniger den Künstler
darstellt. Aber indem dieser sich sonst nach
aussen projiciert, sich in der Darstellung eines
andern gibt, gewinnt er von selbst einen un-
vermeidlichen Grad von Anschaulichkeit, den
er in der Lyrik entbehren muss.

Nur der Musiker, sofern er sich nicht
durch das Wort und die mimische Darstellung
unterstreicht, scheint in gleicher Lage zu sein.
Aber ihm ist in den Tönen ein Ausdrucks-
mittel des Gefühles gegeben, vor dem die Sprache
immer armselig bleiben wird.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 11, S. 268, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-11_n0268.html)