Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 278

Zur Entwicklung der lyrischenTechnik (Schlaf, Johannes)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 278

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SCHLAF: ZUR ENTWICKLUNG DER LYRISCHEN TECHNIK.

vollsten und reichsten, die dauerndsten In-
dividualitäten zu harmonischer Entfaltung
bringen; aber wollen wir uns das alles
recht dringlich vergegenwärtigen, so
werden wir vielleicht zu einer richtigen
Schätzung unserer heutigen Bestrebungen
gelangen und wohl auch gewahren, woran
es uns augenblicklich in einer Zeit mangelt,
in der die Ismen einen wahren Hexen-
sabbath feiern, und die das Wort Technik
so aufdringlich und selbstgefällig im
Munde führt.

Gerade in unseren Zeiten der Reclame
wird auch in der Kunst so viel als neu,
unerhört und noch nie dagewesen auf-
dringlich ausposaunt, mit dem es, bei
Licht besehen, denn doch so seine Bewandt-
nis hat; und es zeigt sich eine Sucht,
»alte Formen« zu zertrümmern, die hie
und da geradezu etwas von der bornierten
Einsichtslosigkeit einer Autodidaxis hat,
der eine organisch-geistige Durchbildung
abgeht. — Man hört heute viele, welche
in der Lyrik z. B. die Anwendung des
Reimes als antiquiert ansehen, wenn ein
gewisser Jargon sie nicht bereits als ge-
radezu »idiotisch« bezeichnet; und mancher
ist heute der unglaublichen Ansicht, es
könne eine Kunstform möglich sein, die
ein unüberbrückbarer Abgrund von aller
bisherigen Entwicklung trenne. Noch immer
aber ist Entwicklung organische Entfal-
tung, in der sich ein Phänomen mit dem
anderen durch mehr oder minder deut-
liche Übergänge verknüpft, und es ist
nicht viel mehr als ein Taschenspieler-
kunststück des spintisierenden Gehirns,
wenn heute hie und da Kunstformen zu
Stande gebracht werden, welche präten-
dieren, in dieser Beziehung das Unmög-
liche möglich gemacht zu haben.

So kann es in der Lyrik unmöglich
darauf ankommen, z. B. den Reim zu
beseitigen; so erschöpft seine Mittel auch
erscheinen mögen, eine starke Indivi-
dualität wird es dennoch jeden Augen-
blick zuwege bringen, wieder und noch
einmal »Liebe« und »Triebe« in einer
Weise zu reimen, vor der jede Kritik
des nörgelnden Pedantismus verstummt.
Es wird ferner nicht darauf ankommen,

die alten Rhythmen durch einen neuen
unerhörten, noch nie dagewesenen und
allernatürlichsten Normalrhythmus zu be-
seitigen; eine starke Persönlichkeit kann
jeden Augenblick darthun, dass ihre
Wirkungskraft noch lange nicht erschöpft
und in einem gewissen Sinne unerschöpf-
bar ist. Unsere ganze neuerliche Kunst und
Ästhetik duftet hier viel zu sehr und
bedenklich nach Atelier und Experiment.
Es lässt sich einzig sagen, sie werden
sich entwickeln mit der künstlerischen
Persönlichkeit, mit dem ästhetisch-ethi-
schen Activum, das sie bedeutet und in
mannigfach individueller Weise. — Mög-
lich, dass z. B., wie sich der Reim der
ersten christlichen Hymnendichtung aus
der Assonanz der Antike auf diesem Wege
entwickelte, hie und da Ansätze zu
neuen künstlerischen Formen, die einen
einschneidenden und epochemachenden
Neucharakter tragen, auch heute vor-
handen sind; forcieren wird sich hier
aber nichts lassen, und es ist gerade
gegenwärtig unser Fehler, dass wir hier
so viel forcieren wollen.

Die Entwicklung, die neuerdings der
freie Rhythmus bei uns genommen, ist
sicher so interessant wie bedeutsam; ent-
schieden sind seine Mittel und Möglich-
keiten in bisher unerhörter Weise ver-
vielfältigt, um- und ausgestaltet; aber zu
behaupten, dass sie im Grunde mehr und
etwas anderes bedeute, als eben eine Ent-
wicklung des freien Rhythmus, ist eine
bedauerliche ästhetische Verirrung.

Alles in allem aber: Anfang, Mitte
und Ende aller Kunst ist nach wie vor
die Individualität, und zwar diejenige, die
den stärksten, mächtigsten und noth-
wendigsten Gefühls- und Gedankengehalt
am eindringlichsten darzustellen, zur mäch-
tigsten Suggestion zu bringen vermag,
mit welchen Mitteln, ist und bleibt ihre Sache.

In diesem Sinne, aber nur in ihm,
werden wir heute in unserer Lyrik auch
diese und jene Erscheinung gelten lassen
können, deren übrige Prätensionen theo-
retisch-ästhetischer Art lediglich von be-
dauerlicher, jedenfalls nebensächlicher Be-
deutung sind.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 278, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-12_n0278.html)