Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 277

Zur Entwicklung der lyrischenTechnik (Schlaf, Johannes)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 277

Text

ZUR ENTWICKLUNG DER LYRISCHEN TECHNIK.
Von JOHANNES SCHLAF (Magdeburg).

Es ist unzweifelhaft, dass wir heute
in einer Periode kunsttechnischer Revo-
lution stehen. Besonders deutlich ist diese
Thatsache letzthin auf dem Gebiete der
Lyrik zu Tage getreten, und vielleicht
auch am kennzeichnendsten für diese
ganze technische Entwicklung der modernen
Kunst, die von ihren Anfängen her wohl
mehr oder weniger unter dem Zeichen
des Flaubert’schen »L’art pour l’art« steht.

Es soll nun hier nicht meine Aufgabe
sein, ein Bild und eine Charakteristik der
neuen Technik zu entwerfen; ich will
mich vielmehr lediglich darauf beschränken,
angesichts namentlich dieser und jener
neuerlichen Erscheinungen und Theoreme
auf dem Gebiete der Lyrik, daran zu er-
innern, wie eine neue Technik organisch
sich entwickelt.

In dieser Hinsicht uns zu belehren,
brauchen wir nur bis zum Sturm und
Drang am Ausgange des vorigen Jahr-
hunderts, bis zur Geburtszeit unserer neuen
deutschen Wortkunst zurückzugehen.

Seinen classischen Ausdruck scheint
mir das innerlich treibende und neuschöpfe-
rische Princip jener Epoche so recht in
den bekannten Worten Fausts an Wagner
gefunden zu haben:

»Such er den redlichen Gewinn!
Sey er kein schellenlauter Thor!
Es trägt Verstand und rechter Sinn
Mit wenig Kunst sich selber vor;
Und wenn’s euch Ernst ist, was zu sagen,
Ist’s nöthig, Worten nachzujagen?
Ja, eure Reden, die so blinkend sind,
In denen ihr der Menschheit Schnitzel kräuselt,
Sind unerquicklich wie der Nebelwind,
Der herbstlich durch die dürren Blätter säuselt!«

Es sind alte, müde Zeiten, in denen
das »Wie?« in der Kunst über das »Was?«
gestellt wird, die Technik über den Ge-
halt. Der Geist einer Epoche hat seine
Triebkraft erschöpft, das Raffinement der
Schöngeister und Alexandriner, der ästhe-
tischen Gourmands kommt an die Reihe;
die Technik wird zum A und O der Kunst.

So stand es in den Zeiten der Bodmer,
Ramler und Hagedorn, als der Geist
Rousseaus und der grossen französischen
Revolution, der Geist Shakespeares,
Ossians, Youngs und des Lawrence, Sterne
unserer deutschen Dichtung, ein neues,
frisches und treibendes Leben brachte.
Empfindung und Temperament, »Ver-
stand und rechten Sinn« mit »wenig
Kunst« sich selbst vortragen zu lassen,
wurden die befreienden Losungsworte und
bezeichneten die Zone, in der die neuen,
lebentreibenden Bildungskräfte mit unge-
stüm elementarer Gewalt hervorbrachen
und den artigen Spielereien der Rococo-
technik den Garaus machten.

Und gerade eine Zeit, der Worte wie
Kunst und Technik geradezu odiös und
die Sturm, Drang, Revolution eines neuen
mächtigen Lebensinhaltes ist, wird die Zeit
einer neuen grossen Kunst und der Geburt
einer neuen lebendigen Technik, eines
neuen »Wie«?, das nichts anderes, als
der Temperaturgrad des neuen Elans und
der zwingend hinreissenden Gewalten des
neuen übermächtigen Culturgeistes; eine
Zeit, welche die intimste Freiheit und
organische Verknüpfung des »Wie«? und
des »Was«? in der Kunst auf das an-
schaulichste darthut; eine Zeit, die nichts
von irgend welchen Ismen weiss, die ihnen
vielmehr der natürlichste und unerbittlichste
Feind; eine herrliche Epoche, die bei
allem natürlichen und gesunden Selbst-
bewusstsein und drängenden Individuali-
tätsgefühl doch frei von jeder Selbstge-
fälligkeit, im Steam eines neuen elemen-
taren Lebensgefühles niemals die eitle
Prätension aufstellt, dass sie Neues, Un-
erhörtes und noch nie Dagewesenes biete
und es dennoch hervorbringt.

Es ist selbstverständlich, dass mit alle-
dem nicht der Anarchie gewisser kraft-
genialischer Geberden das Wort geredet
werden soll; Arbeit und Selbstbezwingung
werden immer wieder gerade die kraft-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 277, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-12_n0277.html)