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Universell betrachtet, ist Toorop eine
höchst merkwürdige und sehr eigenartige
Erscheinung in unserer Kunst.
Während die Maler in Holland fast
immer von Haus aus Naturalisten oder
Realisten waren, weist das jetzt zur Reife
gelangte Talent Toorops eine Abkehr
von dieser nationalen Weise auf und zeigt
uns philosophische und symbolische Auf-
fassungen, die selbst im Mittelalter nur
höchst selten in niederländischer Kunst
sich hervorgewagt. Zum grössten Theile
muss dies dem sehr verschiedenen Ur-
sprung der Vorfahren zugeschrieben werden,
die Toorops Stammbaum bilden. Denn
wie die Kunstäusserung eines Volkes das
Product dieses Volkes, seiner Rasse und
des Milieus ist, in dem es lebt und wie
sich seine philosophischen Begriffe nach
Massgabe des Klimas, der Bodenbeschaffen-
heit etc. festlegen, so ist ja auch die
Kunstäusserung eines Künstlers das Pro-
duct seiner Natur, seines Temperaments,
seiner Lebensart. Ist dieses Temperament
ausschliesslich von einer Rasse abkünftig,
dann ist das Werk den Eigenschaften
dieser Rasse unterworfen. Bei Toorop
aber muss man sehr weit zurück- und
auseinanderliegende Vorfahren aufspüren,
um die Genesis seiner Person und seiner
Kunst zu ergründen; und so gewahrt
man, dass er durchaus nicht aus einem
Stück gehauen ward, und dass ihm all
die verschiedenen Elemente, die physisch
und also auch moralisch zu seinem Ent-
stehen beigetragen, zu einer sehr aparten
und vielseitigen Persönlichkeit machen
mussten. So sind in Toorops Werken
sehr ansehnliche Spuren von javanischer
und norwegischer Mythologie zu finden,
die sich mit englischer Zartheit und mit
einem eigenartig coloristischen Tempera-
ment verbinden.
Gern bekenne ich, das ich mich nicht
befugt erachte, die tiefen philosophischen
Gedanken seiner späteren Werke zu zer-
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gliedern. Doch was an Toorop immer
gewürdigt, ja bewundert werden muss,
auch wenn man das Symbolische in seinen
Werken nicht immer zu begreifen vermag,
das ist die plastische Ausführung. Da
stehen in erster Reihe sein Geschmack,
seine Farbendeutung, sein Darstellungs-
verständnis, die Grazie, der elegante
Linienbau seiner Compositionen, die Aus-
drucksvornehmheit der Gestalten in seiner
edel-realen Auffassung, die delicate, sen-
sible Tastlebendigkeit seiner Hände und
Finger, die so individuell und zierlich
ausgearbeiteten ornamentalen Motive. Und
neben diesen malerischen Qualitäten die
subtile, innig durchdringende, dramatische
Empfindung der Menschenliebe und des
Mitleidens, die seine Werke durchstrahlt
wie bei Maeterlinck. Wir sehen in all
seinen Werken die heftigste Farben- und
Linienkraft so gut wie die zarteste Innig-
keit; die tragisch-dramatische Äusserung
so gut wie die friedsame, heitere Ruhe;
das Phantastische so gut wie das Ein-
fachste, Stilisierte; und so ist er — mit
Derkinderen an der anderen Seite — der
Bahnbrecher gewesen für die Kunst der
Jüngsten.
Was er in seinen letzten Werken ver-
sucht, das ist das stete Hinaufführen des
Ausdrucks in höchsten Charakter und
höchste Reinheit; doch immer in Be-
ziehung zu Form, Farbe, Linie. Thorn
Prikker hörte ich einmal Jan Toorops
Wesen Van Deyssel gegenüber also for-
mulieren: »Die Essenz des Schönen in
der Natur zu geben, ganz abstrahiert von
der Form, das ist sein Streben.« Dies
erreicht unser Toorop zweifellos mit un-
gemeinem Zauber, mit seltsamem Fein-
gefühl in seinen Werken. Und diese lassen
sanft melodiöse Bewegungen im Gemüth
entstehen und suggerieren flüsternde, un-
stoffliche Harmonien, hergeweht aus den
Urwäldern von Java und den finsteren
Fjorden von Norwegen.
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