Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 286

Zur Pianistenfrage (Kolb, Annette)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 286

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KOLB: ZUR PIANISTENFRAGE.

lichen Meisterwerke dafür geschaffen. Aber
leider ist es ebenso wahr, dass sie dabei
kaum einen unserer modernen Pianisten,
wie sie jetzt landläufig sind, als Execu-
tanten im Auge hatten, noch dass sie
dieselbe Idee vom Clavierspiele hatten
wie er! Eine ganz kleine Silbe trennt
hierin die alte von der neuen Zeit: Sahen
unsere Meister im Clavier ein stets ver-
fügbares Mittel, die mannigfachsten, reich-
sten Tongebilde auf dem dürftigen Holze
zu resümieren und zur Wiedergabe zu
bringen, ein unschätzbares Mittel zum
Zwecke musikalischer Reproduction, so
sieht hingegen der moderne Virtuos in
seinem Instrument lediglich ein Produc-
tionsfeld. Nicht Mittel ist es ihm, sondern
Zweck, und zwar: sich selbst will er pro-
ducieren. Über einen so unkünstlerischen
Standpunkt ist weiter kein Wort zu ver-
lieren. — Nennt man mir aber Franz
Liszt als Beleg für die Berechtigung des
modernen Pianisten, so werde ich er-
widern, dass er eine Einzelerscheinung, ein
ganz für sich gehendes musikalisches Phä-
nomen vorstellt, wie die Duse etwa für
die Bühne. Beide aber scheinen mir in
dieser Hinsicht gleich wenig berufen,
Bahnen zu eröffnen, denn sie sind künstle-
rische Typen, deren Wert und Reiz eben
in ihrer Eigentümlichkeit beruhen. Liszts
Mähne auf einem anderen Köpflein ist
ebenso unbefugt, als es vermuthlich die
Mimik der Duse bei einer anderen Schau-
spielerin wäre, denn auch diese findet
ihre Berechtigung in einer ganz individu-
ellen künstlerischen Beschaffenheit, aber
gewiss nicht als künstlerisches Moment!
Und dieser Vergleich, wenn er sich auch
nicht vollkommen deckt, mag immerhin
dazu dienen, den Fall näher zu beleuchten:
So wie die grosse Tragödin ihre eigene
Individualität auf der Bühne in tausend
Nuancen schillern und erklingen lässt, mit-
hin nicht die eigentlichen Charaktere, wie
sie unsere Dichter schufen, zur Ge-

staltung bringt, sondern auf dem näch-
sten, oft sogar dem nächstbesten Wege
ihre ganz persönliche Empfindungsweise,
ihre moderne Seele zur Mittheilung bringt,
so verlässt auch der Pianist auf dem clas-
sischesten aller Instrumente das ursprüng-
liche Gebiet, und nicht so sehr musikali-
sche Werke, als seine eigene Person führt
er uns vor, um sie unserer Aufmerksam-
keit aufzudrängen. Die moderne Clavier-
literatur ist nicht anders als im engsten
Bündnis mit jenem Irrthum entstanden,
den Virtuosen als Alleinherrscher vor
seinem dadurch fraglich gewordenen In-
strumente hinzustellen und beide hiemit
zu vernichten. Denn wie thatsächlich das
schönste Clavier unter den Jonglerien und
unter der schaudervollen Gewandtheit eines
Virtuosen zur unmusikalischen Plage wird,
so denkt man auch heute unwillkürlich
bei dem Worte »Musiker« an einen
Geiger, Cellisten oder Sänger und nicht
so bald an den Pianisten
, der mit-
sammt seinem Instrumente und seiner
pompösen Specialliteratur aus diesem Bunde
ausgetreten zu sein scheint, seitdem er
sich auf dem kolossalen Wahne einschiffte,
ein eigenes, selbständiges Gebiet — die
künstlich angelegte Claviersee — zu be-
fahren, und nun auf einer Sandbank fest-
gesessen liegt, von der er nicht so bald
wieder loskommen wird. Es sei denn, dass
ihn die Musiker selbst wieder zu Ehren
bringen und aus dem unförmlichen, ver-
unglückten Dampfer jenes ideale Schiff-
lein bauen, als welches es einst an einem
mächtigen Baue festgeankert lag und mit
ihm und durch ihn die Fähigkeit erhielt,
das unendliche Meer der Töne zu be-
fahren.

In diese seine urspüngliche, so edle
Abhängigkeit sollten wir es zurückführen,
da es in Demuth so viel erreicht. Nur
so könnte es seine alte Würde wieder er-
langen und in uns die alte Freude und
die alte Begeisterung wieder erwecken.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 286, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-12_n0286.html)