Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 287

Pariser Brief (Gourmont, Remy de)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 287

Text

PARISER BRIEF.
Von REMY DE GOURMONT.

Ein Schriftsteller von heutzutage muss,
wie es scheint, bereit sein, auf alle Fragen
aus dem Stegreif zu antworten; er soll eine
Lösung für alle Probleme, eine Meinung
über alle Ereignisse, eine Bemerkung für
alle Zwischenfälle haben. In ein und der-
selben Woche oder so ungefähr muss
man sagen, was man 1. über die Kunst,
2. über die Theaterkritik, 3. über den
Hauptmann Marchand und die Faschoda-
Frage, 4. über den Einfluss der Frauen
auf die Literatur, 5. über das franco-
germanische Übereinkommen denkt. Ich
habe mir ausgerechnet, dass ich seit fünf
oder sechs Jahren genug Antworten auf
manchmal sehr wunderliche Fragen ge-
geben oder geschrieben habe, um einen
Band des Brockhaus-Lexicons zu füllen.
Man sollte einen Corpus der Enquêten
zusammenstellen, wie man einen Corpus
der Concile oder der Urtheile des Cassa-
tionshofes zusammengestellt hat. Unsere
Zeitgenossen würden darin als das er-
scheinen, was sie wirklich sind: als Wesen
voller Lösungen, Gesetze und Gewissheiten.

Niemand zweifelt fast mehr an irgend
etwas; wir sind weitab von Montaigne,
ja selbst von Renan, der edle Skepti-
cismus der freien und nach allem Wissen
begierigen Geister wird durch den univer-
sellen Autoritätenwahn verhöhnt. Gestern
schrieb ein junger Mann, dass ein der Gewiss-
heiten barer Mensch vollkommen verächt-
lich sei. Die Freiheit geht sichtlich zurück,
indes die Willensäusserungen sinken und
die Gehirne weicher werden. Aber die
Gewissheiten, und das ist ein Glück, sind
verschieden, die Einigung betrifft nur einen
Punkt, die vollkommene und unvermeidliche
Glückseligkeit der kommenden Menschheit,
die Mittel zur Erlangung der Seligkeits-
oase sind verschieden, und während des
Streites können sich einige illusionsfreie
Köpfe für die gegenwärtige, die liebe,
fliehende Minute interessieren, welche die
Dummen um der Chimären des wieder-
eroberten Paradieses willen vernachlässigen.

Wenn die Welt mir zuhören würde,
möchte ich sie lehren, jene Blüte zu ge-
niessen, die so wenige Finger zu pflücken
wissen; die Minute, nicht die andere, jene,
die im Entstehen ist; nein, jene, die breit
und duftend ihr Rosenherz längs der
dornigen Zweige des schmerzhaften Rosen-
stockes entfaltet.

In einer Minute liegt eine Unendlich-
keit. Als Newton mit der Uhr in der Hand
das Ei zu seinem Frühstück kochte, hatte
er zwischen jedem Aufwallen des Wassers,
zwischen jedem Schlag der Uhr Zeit, von
einer Welt zur andern zu fliegen oder die
Erdkugel zu umkreisen. Wohl war oft,
wenn er vom Sirius kam, das Ei hart,
aber die Reise lohnte es.

All dies soll sagen, dass ich die Be-
trachtungen über die Zukunft, die Zukunft
der Gesellschaften, die Zukunft der Kunst,
die Zukunft der Frauenfrage oder des Auto-
mobilismus nicht sehr liebe. Diese Be-
schäftigung mit der Zukunft ist vielleicht
nur das Zeichen der Ohnmacht: zu leben, es
ist die jüngste Krankheit der Menschheit und
vielleicht die gefährlichste für die Mensch-
heit, und zwar aus folgenden Gründen:

Die Zukunft ist bestimmt. Alle Menschen,
selbst wenn sie einen Augenblick in einem
einzigen Willen vereint wären, sind ebenso
unfähig, die sociale Zukunft, da sie durch
die Kräfte der Entwicklung bestimmt ist,
zu ändern, als die Temperatur und das
Wetter, da es durch das Reich der Winde
bestimmt ist. Die Prognosen über die Zu-
kunft laufen auf Folgendes hinaus: dass
die Menschen nämlich sich selbst eine
ihren Wünschen oder ihrem Vergnügen ent-
sprechende Zukunft versprechen. Nun ist
es sehr leicht möglich, dass die Zukunft eine
verschiedene, unbekannte und augenblick-
lich unkennbare Richtung einschlägt; daraus
nun entstehen ernste Enttäuschungen und
ganze Generationen sind vielleicht der Ver-
zweiflung anheimgegeben, nur ein Leben
zu leben, das dem aller seit dem Beginn
der Welt bestehenden Menschen gleicht.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 287, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-12_n0287.html)