Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 288

Pariser Brief (Gourmont, Remy de)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 288

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GOURMONT: PARISER BRIEF.

Man muss dem Volke nur unrealisier-
bare Paradiese versprechen, Paradiese, in
die vielleicht nicht jedermann kommen wird,
aber aus denen sicherlich niemand zurück-
kehrt. Wenn die kommenden Jahrhunderte
keine grosse Verzweiflung sehen, so werden
sie dann ein lautes Lachen sehen, und den
heutigen Sociologen wird diese spöttische
Nachwelt jene prächtige Eselsmütze auf-
setzen, mit der wir gerne in unseren Ge-
sprächen die ehrwürdige Stirn des alten
Nostrodamus krönen.

Wenn es sich also darum handelt,
wirksam an der Verbesserung des Lebens
zu arbeiten — die schliesslich vielleicht
nicht durchaus unmöglich ist, man darf
keinen guten Willen, kein zartes Gemüth
entmuthigen — dann sei es in der gegen-
wärtigen Minute, im Laufe dieses Früh-
lings zum Beispiel. Macht einen schönen
Versuch, kräftige Weltenschöpfer, und
schmücket die heutige Welt mit einer
neuen Blüte!

Das Beispiel ist übrigens schlecht
gewählt! In jedem Frühjahre bieten uns
die Gärtner neue Blumen, und wir sind
darum nicht glücklicher. Man hat selbst
heuer oder voriges Jahr mehrere neue
Tauben erfunden, von denen eine den
Kropf so gross hat, dass sie sich kaum
zur Erde bücken kann, um das Korn auf-
zupicken; die Einmischung des Menschen
in die Natur führt oft zum Monstrum.
Die Vögel sind übrigens die nachgiebigste
Thiergattung, die es gibt, und sogar die
einzige, wie es scheint, deren Entwicklung
nicht beendigt ist. Sie sind die Letztge-
kommenen der Schöpfung. Ich spiele hier
auf wissenschaftliche Entdeckungen an,
deren Einzelheiten noch nicht veröffentlicht
worden sind und deren Wichtigkeit die
Lamarcks und Darwins überragen wird,
da sie der Wahrheit näher, praktisch
besser durchgeführt sein werden. Diese
Entdeckungen besagen im Kernpunkte,
dass im Gegensatz zu den darwinistischen
Theorien die Gattungen unwandelbar sind.
Die Gattung Pferd z. B. kann verschwinden;
sie kann sich nicht verwandeln; wenn
es in zehn Millionen Jahren noch Pferde
gibt, werden sie mit den heutigen Pferden
identisch sein. Es scheint wohl, dass die
Gattungen seit ihrem fernsten Ursprung
bestimmt und auf ein Ziel gerichtet waren,

das sie nicht überschreiten können, eine
Form, aus der sie nie heraus können. Es
war mir gegönnt, die Geschichte dieser
Entdeckung aus dem Munde ihres Ur-
hebers selbst, des Professors Quinton,
zu vernehmen, und es schien mir, dass
ich, in irgend ein wunderbares Labora-
torium der primitiven Zeiten versetzt, dem
Ursprunge des Lebens beiwohnte! Durch
die beiden Schlünde des Ofens, den Nord-
und den Südpol, sah ich den Rosenkranz
der Gattungen kommen, die dann durch
den Lebensinstinct in alle Meere und alle
Wälder der Erde gejagt worden sind!

Von diesem Augenblicke an können
sich die Theologen vorbereiten. Sie wussten
sich mit Darwin abzufinden, dessen wunder-
bare, aber noch unvollkommene Wissen-
schaft ungefähr und vielleicht nicht unbe-
wusst die biblische Ordnung der Schöpfung
ehrte; jetzt gehen die Bibel und Darwin
Arm in Arm, nachdem sie fürchterliche
Feinde gewesen waren. Zweifellos ist die
Anpassungslehre dem Glauben nicht so
günstig als die Zeiten Buffons oder Cuviers,
aber man fand sich damit ab. In einigen
Jahren wird es sich darum handeln, den
Propheten Moses und Professor Quinton
unter ein Fach zu bringen; das wird
schwieriger sein. In diesem System ist
der Mensch in der That nicht mehr die
Krone der Schöpfung; er ist nicht mehr
der Letztgeschaffene; er ist unter den
jetzt lebenden Thieren sehr alt. Als er
geboren wurde, existierten die Vögel noch
nicht, wenn auch die Krokodile schon
ehrwürdige Alterthümer waren: die erste
Frau hat nicht die Nachtigall singen ge-
hört. Ich weiss nicht, wie die Bibel sich
da aus der Affaire ziehen wird; ich fürchte,
dass die Taube der Arche Noah durch
sie wie von einem vergifteten Pfeile ge-
tödtet werden und ihr Ölzweig ins Wasser
fallen wird, bevor er nur in den Bereich
einer menschlichen Hand kommt.

Wenn dieser Gedanke, die Unver-
änderlichkeit der Gattungen und selbst
der Thier- und Pflanzenarten, eine kom-
mende Generation gefangen nimmt, wie
es der Darwinismus that, kann man eine
ansehnliche Veränderung in dem Ge-
dankenbild der Geister voraussehen. Es
wird sich dann weniger darum handeln,
eine Zukunft zu escomptieren, die nicht

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 288, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-12_n0288.html)