Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 289

Pariser Brief (Gourmont, Remy de)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 289

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GOURMONT: PARISER BRIEF.

viel von der Gegenwart abweichen wird,
als darum, aus der Gegenwart den grösst-
möglichen Vortheil zu ziehen. Man wird
weniger Reisepläne machen und wird
mehr daran denken, das Innere eines
Hauses einzurichten, dessen Mauern, wenn
sie auch fallen können, doch nicht ver-
setzt werden können. Es gibt schon jetzt
Streiflichter eines solchen Geisteszustandes
bei den Philosophen, die sich endlich
entschliessen, von der Welt eine Vor-
stellung sich zu bilden, die nicht ganz
im Widerspruch steht mit den allge-
meinen Naturgesetzen, wie sie noth-
wendigerweise von der menschlichen In-
telligenz erfasst werden. Diese Entwick-
lung verdanken wir Nietzsche, dem einzigen
Kantianer, der, Kant selbst mit inbegriffen,
die Principien der »Kritik der reinen Ver-
nunft« nicht verrathen hätte. Dies legt in
einer sehr schönen Studie »Von Kant
bis Nietzsche«, deren erstes Capitel der
»Mercure de France« veröffentlicht, Herr
Jules de Gautier dar. Man muss mehr
als die Vorbemerkungen einer grossen
Arbeit gelesen haben, um ihre Bedeutung
zu würdigen; aber man sieht schon jetzt,
dass es das Ziel des neuen Philosophen
ist, den Sophismus zu zerstören, der
Kant, nachdem er die »Götzen des logi-
schen Himmels« ins Feuer geworfen, er-
laubt hat, sie allsogleich wieder heraus-
zuziehen und sie halbverkohlt auf ihren
alten, wurmstichigen Piedestalen in die
Nischen zu stellen, in denen die Pro-
fessoren der Ethik ihren Rosenkranz her-
sagen. Herr v. Gautier ist kein Dichter
wie Nietzsche; er ist ein Schriftsteller
wie Schopenhauer oder Taine, aber mit
weniger Ironie und mehr Lyrik. Er
scheint dazu bestimmt, der Philosoph der
symbolistischen Periode zu sein, wie
Ribot der Philosoph der naturalistischen
war; unsere Generation brauchte einen
Philosophen: da ist er, wie ich wenigstens
ihn mir gerne ausgedacht hätte, wenn er
sich nicht ganz allein durch die blosse
Kraft eines originellen und logischen
Talentes geoffenbart hätte.

Man erholt sich jedoch bei einer
weniger strengen Literatur; die Lieblings-
bücher des Augenblickes scheinen: Mlle.
Cloque,* Le livre de la Tungle**
und Le trèfle blanc*** zu sein.

Das erste ist ein Roman aus dem
Provinzleben, in welchem der Autor,
René Boylesve, als ein sehr feiner und
getreuer Beobachter sich erwiesen hat.
Man legt oft viel Spott und den aller-
ungerechtesten in die Romane, die in der
Provinz spielen; es scheint, dass es
ausserhalb von Paris und zwei oder drei
grossen kosmopolitischen Städten auf dem
Boden Frankreichs nur grobe, groteske
und hochmüthige Wesen gibt; Herr
Boylesve hat in Tours in der Touraine
Heroismus entdeckt, er hat ihn in dem
Wesen entdeckt, das bis nun als das wenigst
heroische und lächerlichste galt: in der
frommen alten Jungfer. Mlle. Cloque ist
eine Art Lutrin von Boileau auf das
Niveau der tragischen Gefühlsgeschichte
erhoben; es ist auch eines jener Bücher,
die am besten einen Winkel der wahren
französischen Provinz mit ihren Tugenden
und ihren Vorurtheilen bezeichnen können.
Vom »Djungelbuch« habe ich nichts zu
sagen, was nicht schon in Deutschland
bekannt wäre; es scheint mir ein Buch
zu sein, das Bilder braucht, aber es hielte
schwer, einen Zeichner mit so originellem
Talente wie Rudyard Kipling zu finden.
Noch schwieriger könnte man vielleicht
Le trèfle blanc (das weisse Kleeblatt)
illustrieren, aber aus anderen Gründen,
denn es würde sich dann darum handeln,
in Zeichnungen Landschaften und Personen
besser zu zeigen, als dies Henry de Rég-
nier
in seinen Sätzen thut. Ich glaube,
dass es schwer gelänge, denn der Stil
dieses kleinen Bandes ist bilder- und
farbenreich, allerdings mit geschmack-
voller Mässigung; die Sprache ist einfach
und klar, das Wort immer gut gewählt,
der Inhalt: Kindheitserinnerungen von
merkwürdiger Genauigkeit.

Indes erwacht der Pariser Frühling und
Gärtchen ziehen sich den Strassen entlang.

Paris, April 1899. †

* Verlag der Revue blanche.

** und *** Société du Mercure de France.

† Aus dem Manuscript übersetzt von Clara Theumann, Wien.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 289, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-12_n0289.html)