Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 291

Das Vertonen Das Märchen vom Vatersterne (Rappaport, FelixLevetzow, Freiherr Carl von)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 291

Text

LEVETZOW: DAS MÄRCHEN VOM VATERSTERNE.

Mittelschulen riechenden Auffassung
stimmt hier das gänzliche Versagen
der malerischen Ausdrucksmittel über-
ein: hier beginnt eben — jenseits des
Zeichnens — die Vertonung und die
Intuition. Nur sie kann die Tiefen der
Seele ausdrücken, in denen die gött-
lichen Ungeheuer lagern, und die My-
sterien der Offenbarung.

Der Ton bedeutet die Überwindung
der Linie
, welche ihrem Wesen nach
unnatürlich und gegenkünstlerisch ist.
Aus dem ausschweifenden Deutlichkeits-
drang geboren, vertritt sie gegenüber
der unendlichen Harmonie des Tones

den Fall ins Bewusstsein, in die Endlich-
keit, den Sündenfall in der Kunst. Die
Vertonungskunst deutet, darum ist sie
nicht deutlich; sie ist auch nicht per-
sönlich, sondern ausser- und überper-
sönlich: vielleicht wird man bald ein-
sehen, dass ein persönlicher Künstler
ebenso unmöglich ist, wie ein per-
sönlicher Gott.

Geistige Erkenntnisse erscheinen
nicht zufällig, sondern treten, bestimmten
Gesetzen folgend, periodisch auf. Wir
nähern uns dem dritten Abschnitt der
Erkenntnisperiode, die von Schopen-
hauer über Wagner führt.


DAS MÄRCHEN VOM VATERSTERNE.
Von Freih. KARL v. LEVETZOW (Wien).

Vor vielen Jahres-Billionen, als es noch
keine Sterne gab und nur Unendlichkeit
in sich hineindunkelte, entstand einst plötz-
lich, fern von dort, wo jetzt unsere Sonne
steht, ein gewaltiges Glühen; ein Licht
aus dem Urschosse der Nacht. Das war
ein riesiger Feuernebel, ein glühender Ur-
gedanke, ein ungeheurer, verdichteter
Ätherball.

Da war nun der erste Stern.

Viele Jahres-Millionen glühte der Nebel
vor sich hin; glühte, glühte in das ewige
Dunkel hinein, und all sein Denken und
Fühlen war »Glühen«. — Dann sah er,
dass um ihn nichts war, nur Dunkel; da
flammte er noch heller auf und dachte:

»Ich glühe im Dunkel.«

Und er sandte viele, viele Lichtstrahlen
in die weite Nacht, fragende Ätherwellen,
denn er dachte: »Wohin mein Licht
geht, da bin ich, das gehört mir; so
werde ich immer grösser, bis es keine
Nacht mehr gibt, nur ich, ich Licht.« —

Aber die Nacht war viel grösser als
er, und in ihr ertranken alle seine Strahlen.
Das schmerzte ihn, und er dachte: »Meine
Strahlen sind nichts in der grossen Nacht;
ich muss andere Boten aussenden.« Und
er kehrte sein Innerstes nach aussen und
sein Äusserstes nach innen, um andere

Boten zu finden, und so suchte er viele
tausend Jahre. So kam Bewegung in sein
Glühen.

Aus dem wilden Strömen ward ein
Drehen, Drehen um einen Hauptpunkt in
der Mitte des Glühenden; um sich selbst
herum drehte er sich, schneller, immer
schneller, in rasender Wonne; denn nun
hatte er die Boten gefunden, und tanzte
vor Freude, und er dachte und jauchzte:

»Ich drehe mich um mich selbst;
Ich bin die Mitte
Des Feuers — und der Nacht!«

Und er tanzte weiter:

»Ich! Ich! Ich!
Ich bin die Mitte
Des Feuers — und der Nacht!«

Schneller, immer schneller drehte er
sich in rasender Wonne, bis sein aus-
wärtigstes Glühen, das am nächsten der
grossen Nacht war, sich immer mehr
ausdehnte und zusammenzog, bis es sich
von ihm trennte. Nun tanzte sein feurigster
Gedanke um ihn herum wie ein Ring,
ein feuriger Gedankenreigen. Der weitete
sich immer mehr, und entfernte sich von
ihm, und weitete seinen Tanzreigen in die
grosse Nacht: der erste neue Bote. Bis
ihn der Vater nicht mehr hielt. Da riss
er sich auseinander, und schwang sich um
sich selbst herum, und begann ein rasendes

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 12, S. 291, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-12_n0291.html)