Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 303

Sermon wider die Literaten in Dingen der dramatischen Dichtkunstkunst Ein Vöglein über das Mitleid (Fuchs, GeorgLindner, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 303

Text

LINDNER: EIN VÖGLEIN ÜBER DAS MITLEID.

Besonderen stets das Ganze gibt, jederzeit
»wahrer« sein muss, als jegliche Nach-
stümperung von Einzelfällen, sondern auch
das, dass wir von der Aussenwelt nichts
wissen können, als die spärlichen Eindrücke,
die durch die blinden Fenster der Sinne
in das dunkle Haus der Seele fallen. Die
»Theaterliteratur« von heute »arbeitet«
nur mit diesen. Wie könnte sie Euch die

Erfüllung geben, die Ihr von der hohen
Kunst der Schaubühne mit bangendem
Herzen ersehnt, wie könnte sie Euch den
»Sinn des Lebens« freudig aufschliessen,
den Ihr zwar nimmermehr wissen, wohl
aber empfinden könnet in der Kunst,
die wir erstreben als einen grossen, heiligen
und heiteren Trost!


EIN VÖGLEIN ÜBER DAS MITLEID.
Frühlings-Vigilie für einen todten Freund und Dichter.
Von ANTON LINDNER (Wien).

Denn, was ein Vöglein spricht,
Hat guten Klang!
Fühlst Du’s nicht, —
Hülle Dein Angesicht,
Weine Dein Leben lang.

Als mir vor vielen Monden ein Freund
und mit ihm ein Theil meiner Seele
starb, schien es mir, als hätte sich das
Auge aller Menschen verdunkelt. Hände
streckten sich mir entgegen und zogen
sich zitternd zurück, als ich sie unwillig
von mir stiess. Die Abendsonne brach
sich in den Gassen nicht mehr, die Häuser
hielten den Athem an, die herbstlichen
Bäume verhüllten ihr Gerippe, und als
die Sterne wie Todtenlämpchen im Flor
der Wolken hiengen und mühsam die
verwaiste Nacht erhellten, da stockten die
Brunnen rings im Lande, und dorrend
sanken die letzten Blätter ins Gras, weil
selbst das Spiel der unterirdischen Säfte
zu erfrieren begann und alles, alles Leben
schläfrig ward mit meiner Seele.

Am nächsten Morgen kam Das anders.
Die ganze Gemeinheit des Alltags hatte
sich plötzlich vertausendfacht. Sie bleckte
die Geiferzähne und stürmte mit grin-
sender Fratze, teuflischer denn je, auf
mich ein. Ein Schusterjunge gieng schlen-
dernd den Strassenpfad entlang und pfiff
sein Lied, wie ehedem. Und rings um
ihn, der mir in diesem Augenblicke alle
menschlichen Brutalitäten, wie das Brenn-
glas des Satans, radförmig auszustrahlen
schien, drängte sich das Knäuel der

Müssiggänger, Bittgänger, Drauflosgänger;
der Betriebsamen, Regsamen, Strebsamen;
der Kutten, Windhunde, Plänkler und
Pharisäer. Die »schwülen, schwatzenden
Gewerbe« waren gähnend erwacht, und
in das Feilschen, Kreischen, Schreien der
Fischweiber, Lavendelweiber, Bauchtänzer
und Apostel, der Volksredner, Orgeldreher,
Prinzen und Psalmodisten mischte sich das
Schmatzen der Satten und Übersättigten,
das Wimmern der Verhungernden und
Verwundeten, das Scharren der Hufe und
Schuhe und namentlich das Knarren der
Achsen und Erzräder, die über Steine
und Leiber hinwegfuhren, dass des Ent-
setzens kein Ende war.

Da erkannte ich — nicht ohne Dank-
barkeit —, dass sie vor dem leisen Tritt
der Schmerzen keinen Respect haben, die
Mitleidigen, wenn sie auch lärmend ihre
Krankenhäuser, Bethäuser, Friedhöfe und
Ambulanzen bauen.

Und plötzlich eilte ich zu meinem
Kirschbaum, der hinter der schrillen Stadt
steht. Er war schon arg zerzaust von all
den Unbilden der grauen Tage, war bös
zerpflückt und blattlos und ohne Freude,
aber er schien mir in weisse Blüten ge-
taucht, wie zur Frühlingszeit: einsam
stand er in seinem königlichen Kummer,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 303, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-13_n0303.html)