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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 304

Text

LINDNER: EIN VÖGLEIN ÜBER DAS MITLEID.

denn er hatte gar viel erfahren von den
Frevelwerken unserer Brüder und kannte,
der Glückliche, das schale Mitleid der
Menschen nicht.

Ein einzig Vöglein sass in seinen
Zweigen. Es sah mich mit den Steck-
nadelköpfchen seiner kleinen braunen
Augen so klug und durchdringend an,
dass ich mein Vöglein erkannte.

Wenn man, vom lauten Tag umspült,
in seiner frostigen Einsamkeit den unver-
sieglichen Thränen nachhängt und sich
in stummen Schauern schüttelt, ist’s oft
der Ton eines Vögleins zu Häupten, der
unbewusst Trost und Frieden bringt.

O Du mein lieb Vöglein zu Häupten
spiel auf, spiel auf. Denn sieh’, ich sitze
unter Deinem Kirschbaum, stütze das
Haupt aufs Knie und lausche den leisen
Chorälen des Schweigens.

Und in den Schoss das wunde Haupt gewühlt,
Auf kühlem Stein,
Vom grauen Tag so eisig kalt umspült,
Wein’ ich, ein Narr, der wie ein Mensch gefühlt,
Und lausche, lausche in mein Herz hinein.
Und wie es klingt, ach so melodisch klingt,
Zieh ich, ein Bettler, dem die Liebe winkt,
Zum Himmel ein.

So blieb ich einen Tag lang im
Schweigen und starrte dem bangen Schritt
der Stunden nach.

Und zu der ungebundenen Musik des
Vogelspiels, das auf- und niederklang und
wie ein warmer Maienregen durch die
Blätter glitt, fanden sich, wenn ich richtig
gehört, in stillen Rhythmen diese Worte:

Da kauerst Du, Armseliger, bei Deinem
lieben Baum und wärmst Dir die Stirn
an seiner Rinde. Noch sind die Rispen
nicht schlafen gegangen, noch saugen die
Wurzelchen rings an Thau und Tümpeln,
doch drückt schon die Schattenhand des
Abends in die Wipfel, und fernher ver-
rasselt das Leben, verdämmert die Welt
in den Weiten. Und langsam steigen die
Säfte, frostig tropft die Sonne von den
Ästen; nur träge verrieselt das Blut der
Scholle, unmerklich erschauern die Käfer
im Grase, und alles verklingt in Bewegung,
die nur dem Zittern Deiner Seele gleicht
Sinds Hochzeitszüge, Leichenzüge, die auf
Wolken durch die Lüfte gleiten? Dort
drüben, wo der Himmel welkt, hebt sich

ein violetter Flor und schwebt auf gelber
Seide nieder. Doch hinter den Spielen
dieses Zwielichtes verwittern die Dächer
der Stadt, verflattert der Lärm und das
Leben.

Wie werden sie doch von Leiden in
Taumel gehalten, sie Alle, dort drüben,
weit hinter den Spielen dieses Zwielichtes!
Doch wissen sie auch den Schmerz zu
würdigen, ihn lautlos zu würdigen, mit auf-
einandergebissenen Lippen und knirschen-
den Zähnen? Nein, nein, sie wissen es
nicht, selbst ihre Künstler wissen es nicht,
und stammeln mitleidige Worte, die ihnen
wie Seim von den Lippen rinnen. Be-
dauern sich selbst und treiben, wie man
Unfug treibt, ihr Mitleid mit den anderen.
Selbst ihre Künstler treiben es mit. Und
fühlen nicht, wie sehr sie Barbaren sind.

Denn, sagt mir, was soll das Nach-
hinken mit »theilnehmender« Seele? Was
soll das läppische Dazuthun, von Mit-
menschen hingereicht, das jeder Schmerz-
geadelte
nur von sich weisen könnte.
Was sollen Versicherungen, Zusagen, Be-
theuerungen — und was der Abstractionen
mehr sind! Dergleichen Töne und Ströme,
selbst unmittelbar und aus dem tief-
innerlichsten Kern ergebener Menschen
dem Leidenden zu Füssen schlagend, ent-
weihen die lautere Melodie, die königliche
Einsamkeit des Schmerzes. Leid ist das
himmlische Brot des Edelmenschen. Leid
ist der ambrosische Thau, der wunder-
thätig auf unsere Lider fällt, köstliche
Quellen weckt und alle Innenströme des
Auges, des Herzens, der Seele, alle
Fältchen und Fasern und Fibern zu
neuem Leben und stummer Bewegung
treibt. Leid ist wie Frühling dem Schaffen-
den. Und wenn der Thau der Qual ver-
siegt, dorren die Wurzelchen und Triebe,
die Zweiglein und abertausend Zellen, die
Pollenstäubchen, Äderchen und Gewebe,
die uns in unsichtbarer Liebe unsäglich,
ganz unsäglich mit all den heimlichen
Kräften der Gottnatur und unserer eigenen
Wesenheit verbinden. Der Künstler dauert
mich, der nicht alltäglich stirbt, alltäglich
an Alltag und einsamen Wunden stirbt,
um täglich neu und dreifach glücklich zu
erwachen. Dieses Sterben von Stunde zu
Stunde, dieses Lideröffnen und Lider-
schliessen von Augenblick zu Augenblick —

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 304, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-13_n0304.html)