Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 309

Ein Vöglein über das Mitleid Jünglinge (Lindner, AntonJacobsen, Rosalia)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 309

Text

JACOBSEN: JÜNGLINGE.

Glockenkronen: und horch, das Vöglein
wird lebendig

O, Du mein lieb Vöglein in den
Kronen, spiel auf, spiel auf, denn sieh’,
wir wollen Hochzeit machen mit Deiner
kleinen Seele, die grösser, königlicher ist,

als all die klägliche Majestät des mensch-
lichen Schädels.

Denn, was ein Vöglein spricht,
Hat guten Klang!
Fühlst Du’s nicht, —
Hülle Dein Angesicht,
Weine Dein Leben lang.


JÜNGLINGE.
Von ROSALIA JACOBSEN (Venedig).

Das sensationelle Erstlingswerk des
jungen piemontesischen Dichters Venanzio:
»Giovani«, das wir heute den Lesern
der »W. R.« vorführen und das durch
Originalität und kühne Phantasie eine
völlige Sonderstellung in der modernen
italienischen Literatur einnimmt, wäre
bald ein Opfer der letzten milanesischen
Revolution geworden. Das Werk erschien
zu Milano in der »Società Editrice
Lombarda«, dem Herde des berüchtigten
Journals »Italia del Popolo«, geleitet von
dem republikanischen Schriftsteller Ferdi-
nando Fontana, der, als die Revolution
ausbrach, über alle Berge nach Lugano
in der italienischen Schweiz flüchten musste,
um nicht wie die andern radicalen Wort-
führer in Milano für lange Jahre einge-
kerkert zu werden. Der eigentliche Redac-
teur des Blattes, Chiesi, wurde mit zahl-
reichen Mitarbeitern verhaftet, der Verlag
von den Soldaten durchstöbert und ge-
schlossen, ein grosser Theil der übrigens
ganz unschuldigen Verlagsartikel als hoch-
ketzerisch confisciert, und das Buch Ve-
nanzios, das eben druckfertig dalag, konnte
aus dem Dunkel der Druckerei nicht ans
Tageslicht kommen. General Bava, der
Milano in Dictatur-Herrschaft hielt, schien
Lust zu haben, die »Società Editrice Lom-
barda« der Erde gleich machen zu wollen
und ein grosses Autodafé von all den
Verlagsartikeln zu veranstalten. Inzwischen
sass der junge Dichter, der, aus seiner
Heimat in den piemontesischen Alpen
nach Milano gekommen, einen mächtigen
Beschützer in Fontana zu finden geglaubt
hatte, und zitterte für sein Werk. Endlich
gelang es ihm nach unzähligen Anstren-
gungen, eine Anzahl Exemplare aus der

Typographie zu retten, die er privatim
bei Literaten und Journalen anbrachte. Ein
scharfer Process seinerseits mit dem Ver-
leger, der seinen Contract mit ihm nicht
erfüllen konnte, wurde eingeleitet, und so
geschah das Merkwürdige, dass ein Werk,
das noch gar nicht öffentlich in den Buch-
handel gekommen war, Gegenstand des
allgemeinen und lebhaftesten Interesses
wurde.

Das Werk ist eine symbolisch ange-
legte Sage der Jugend, der heissglühenden,
alles erobernden, die kalt und unerbittlich
von der Natur zu deren eigenen Zwecken
missbraucht wird: zur Fortpflanzung der
Generation. So wird es gleichzeitig die
Apotheose und die Tragödie der Jugend.
Wie die mittelalterlichen Standbilder, die
»Memento mori«, zwei Seiten hatten:
eine mit einem blühenden Mädchen, die
andere mit dem Tod, so zeigt auch dieses
Werk ein doppeltes Gesicht. Nur steht
hier statt des Todes das unerbittliche
Fatum, das die einzelnen Individuen ver-
schlingt und nur für das grosse Ganze
Sorge trägt. Man sollte meinen, der Ver-
fasser hätte Schopenhauer gründlich stu-
diert oder sei wenigstens von seinen Ideen
inspiriert. Dem ist aber nicht so. Erzogen
in der Abgesondertheit eines katholischen
Gymnasiums in seinen piemontesischen
Alpen, wusste er nichts von dem Ver-
fasser der »Metaphysik der Geschlechts-
liebe« — und die Verfasserin dieser Zeilen
nannte ihm Schopenhauer zum erstenmale,
als sie letzten Winter mit ihm in Venedig
zusammentraf.

Sehr geistreich ist es, dass Venanzio
in dieser Sage der Jugend den grossen
Moment ergriffen hat, da eben die Mann-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 309, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-13_n0309.html)