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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 308

Text

LINDNER: EIN VÖGLEIN ÜBER DAS MITLEID.

leicht in der selben Blütenwurzel, dem
nämlichen Fichtenstamme, der gleichen
Buchenkrone oder Erdscholle verglimmen,
in die wir uns sehnend hineingezwängt
haben mit all der unsäglichen Glutgewalt
unserer Künstlerseele, — gestehen wir
uns diese dionysische Erkenntnis ein und
jauchzen wir ihr zu und haben wir erst
den Muth, ihr gut zu bleiben, dann
feiern wir auch allaugenblicklich, und
insbesondere in den geheiligten Stunden
des Zeugens, Schöpfens, Schaffens, ein
immer neues und immer köstlicheres
Wiedersehen mit unseren Todten, den
längst vermoderten, geliebten Todten
»Wenn die Rede des Verstorbenen ein-
geht in das Feuer, der Odem in die Luft,
das Auge in die Sonne, der Verstand in
den Mond, das Hören in die weiten
Fernen, in die Erde der Leib, in den
Äther das Selbst, in die Sträucher die
Haare des Körpers, in die Bäume die
Haare des Hauptes, wenn das Blut und
der Same eingeht in das Wasser, wo ist
dann der Mensch?« — fragt Arthabaga
den Yagnavalkya in der Brihadâranyaka-
Upanischad.

Ich bin nur ein armes Vöglein und
singe, glaub’ mir, wie ich singen muss.
Doch sieh’, ich liebe Buddha wie Dionysos,
liebe Dionysos wie Jesum und meine,
dass die Seele des Singenden keinerlei
Schrecknisse kennt und mitleidender
Menschen und Huris nicht bedarf, weil
sie — von Instincten leichtflügelig über
Fährlichkeiten und Fuchsfallen getragen —
ihr Jenseits in der geheimen Anmuth des
diesseitigen Lebens findet, und weil der
Schmerz ja, wie wir wissen, im Grunde
nur die falsche Spiegelung unserer unfreien
Augen ist. Der also, wie der Schaffende,
die Sprache der Vögel, der Blumen und
jungen Thiere versteht, kann füglich der
posthumen Erkenntnis entbehren und allen
Menschenthränen entsagen, denn er fühlt
schon auf Erden in holder Gegenständ-
lichkeit, was den anderen nur blassblaue
Verheissung ist, und klärt in stiller Selbst-
entwicklung die Schleier seines Auges,
dass die falsche Blendung schwindet und
alles Leidsehen von hinnen flieht.

Blühten die Keime dieser Erkenntnis,
die wie das Brandopfer eines Glaubens
duftet, schon in den griechischen Schollen,

auf cyprischen Rebenhügeln? Und ist
unser Hellas doch nicht dahin? Seht, ich
bin nur ein arm unwissend Vöglein, wie
soll ich mir Antwort geben auf diese
Frage? Auch ist die Luft so schwül und
mich dürstet. Lasst mich Thau trinken
und schlafen gehn. Und eben, hört nur,
flog ein Hauch mir vorüber, der wie
mein letzter Wille ist:

Meine Wünsche Dir zu nennen,
Knochenmann, — lass mich verbrennen!
Flammen zehren, wenn wir singen,
Flammen, die von innen dringen, —
Und so mögen, wenn wir schweigen,
Flammen auch von aussen steigen.
Meine Asche gib den Winden,
Will mich mit dem All verbinden.
Die sich Grab und Nummer buchen,
Mögen mich im Äther suchen,
In Sonne und Schollen,
In Wurzeln und Pollen,
In Wolken und Winden
Werden sie ihr Vöglein finden.

Mein Vöglein hatte ausgesungen. Leb-
los fiel es mit leisem Schall vom Zweige
ins kühle Moos, dass rings die Thau-
perlen brachen. Die kleine Leiche lag,
als ich mich umwandte, kalt hinter mir.
Das winzige Herz, kaum grösser als ein
Johanniswürmchen, schien noch zu häm-
mern. Aber ich empfand kein Mitleid.
Dennoch war mir, als wäre ein heisser
Stern vom Himmel gefallen oder ein
Blutäderchen in meinem Innern aufge-
brochen. Aus Waldnadeln, Reisig und
Buchenrinde schichtete ich ein kärglich
Feuer an und legte das Vöglein darein.
Schlaf, armes Vöglein, sei Flamme, der
Du entsprossen; — und hast mich mehr
gewärmt, denn Menschen je gethan!

In einem Ahornblatte trag ich die
Asche nach Hause und streute sie auf
Blumenerde und über die Wurzeln kleiner
Campanellen.

So vergiengen zwei Winter seit ihrem
Aufkeimen und seit dem Tode meines
Freundes, der auf den besten Höhen
menschlichen Verstehens gestanden und
einer der edelsten Künder leidender Schön-
heit gewesen.

Wenn nun der Frühlingsabend an
mein Fenster klopft, und alle Staubfäden
voller Säfte sind, zittert Geläute aus den

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 308, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-13_n0308.html)