Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 307

Text

LINDNER: EIN VÖGLEIN ÜBER DAS MITLEID.

Unerschütterlichkeit geprüfter Empfindun-
gen, die dieses Leben erst lebenswert
macht und selbst den haltlosen Thränen-
bold zum Fürsten seiner Thränen formt?
Wo sind sie hin, die Unverletzlichen der
Seele? Weint, weint, Geliebte, die Seele
ist Sache des Pöbels geworden, dieweil
sie auf Erden ihre Unsterblichkeit ein-
gebüsst — —: all unser Hellas ist da-
hin. Wir wollen es suchen gehen, doch
lasst uns die Fährte nicht fehlen; darum
werden wir nicht in Rosenhainen, in
Marmortempeln nicht und nicht auf Reben-
hügeln nach ihm ausspähen; denn Hellas
schlummert stumm in uns — und wird
die Lider und Lippen öffnen, sofern wir
es in uns selbst zu leichtfüssigem Leben
wecken.

Das Vöglein schwieg, schwang sich
auf einen höheren Zweig und blieb reg-
los eine Weile.

Der Abend war niedergegangen: sein
grosses Auge that sich schwarz hinter
tausend Ästen auf. Jene Secunde kam,
in der das letzte Flämmchen Sonne just
wie ein golden Thränlein am schwarzen
Wimpernrande des Horizontes verglimmt.
Das Wachen, Lauschen, Athemholen hub
an. Und die gesammte Creatur, die leb-
lose und lebendige, betete rings im Walde
ihren Rosenkranz. Bald aber begann das
Vöglein aufs neue:

»Was aber« — könnte man mich
armes Vöglein fragen — »was aber
frommt Dein tröstliches Königthum der
Seele, wenn Dir ein Glied vom Stamme
gestorben, ein Herzensfreund, die Mutter,
der Vater gestorben? Wirst Du die Flügel
nicht wie die Anderen senken und in den
nachtschwarzen Himmel mit brennenden
Augen emporstarren in diesen stumpfen
Stunden Deines Schmerzes?«

Hört denn, o bitte, was mir, dem
Vöglein, ein Stimmchen, tief, tief im
Innern verrathen:

Glaubt man auch nicht an ein Wieder-
sehen nach dem Tode, so hat man doch
füglich als König seiner Seele die wunder-
bare Kraft in sich, die Wonnen eines
viel edleren und reineren Begegnens durch
stumme Herzensandacht von den Göttern

zu erzwingen. Sind wir etwa von
»dieser« Welt? Wie die Erbärmlichkeit
des Alltags abtropft von unserem Gefieder,
und all die billige Trauer der Alltäglichen
nichts gemein hat mit unserem Schmerze,
so streben wir auch darnach, den lichten
Sonnentag, der hinter den Alltäglichkeiten
dämmert, mit staunendem Aug’ zu er-
fassen. Und indem wir seinem Leuchten
mit kochendem Herzen und immer
glühenderer Seele auf die Spur kommen,
unsere Glieder wachsen fühlen, unsere
Wünsche aufblühen, unsere Sinne sich
weiten fühlen, — streben wir der Un-
endlichkeit des Alls und all den verbor-
genen Köstlichkeiten der Natur mit fie-
bernder Sehnsucht und dreifach mäch-
tigem Glauben entgegen; — und immer
tiefer dringen wir ein, indem wir uns in
die physischen Ursachen der Natur, in
Feuer, Sonne, Äther wandeln und bald
die Kostbarkeiten eines Baumes kosten,
in den wir fiebernd geschlüpft, bald die
geheimen Schauer der Sommersonne, in
der wir restlos aufgegangen.

So dehnen wir unser Sein ins Un-
endliche, in eine berauschende, unermess-
liche, unermesslich-tiefe Weite. Und indem
wir so selbst zu Atomen des Weltalls
werden, die Materie beseelen und das
ganze Umher mit unserer innersten We-
senheit füllen, gewöhnen wir uns an ein
körperloses und unbegrenztes — doch
aber »diesseitiges«! — Leben; an ein
Aufathmen, dass die Schale gesprengt
und von der einengenden Form befreit
ist; an ein Jenseitssein, das mit der
Nüchternheit der biblischen Himmelsutopie
fast gar nichts gemein hat und dreifach
edler und heiliger ist als der Wolkenstaat
unserer speculativen Pfaffen, Derwische,
Pastoren, Rabbiner. Indem wir uns also
zu einer rastlosen Allgegenwart erziehen
und jeden Augenblick sterben, um jeden
Augenblick neu und selig aufzuleben,
rauben wir dem Tod das Schreckhafte
und lernen ihn lieben und ehren uns.
Und träumen wir uns schon im Leben,
in gebenedeiten Augenblicken des Schaffens,
hinein in all die vielgestaltigen Atome der
gnadenreichen Welt und gestehen wir uns
gleichzeitig ein, dass die Atome unserer
Todten, der längst vermoderten, geliebten
Todten, verstäubt sind im All und viel-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 307, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-13_n0307.html)