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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 306

Text

LINDNER: EIN VÖGLEIN ÜBER DAS MITLEID.

prallt feindlich von sich ab, weil er sich
selbst nicht agnoscieren kann, oder schleicht
duckmäuserisch um seinen Bannkreis, weil
er sich selber entwischen will. Nur Dritte
sind wir uns selbst gegenüber. Der
Indianer, wie das Baby, kennt nur die
tertia persona, so oft er von sich selber
spricht. Eine Quelle, ein Erzstück, eine
Regenpfütze muss ihm seine Existenz be-
weisen: das Lichtspiel wirft ihn zurück,
darum ist er. Wie uns das grosse Rings-
um — nenn’ es Leben, Menschen, Schick-
sal — carikiert, so sind wir in unseren
Augen und werden es immer mehr. Wie
uns die bornierten Gegenstände auffangen
und hänselnd stilisieren, so scheinen wir
uns wahrhaftig. Und indem wir uns in
den Dingen spiegeln, dünken wir uns
blutig und leiden, weil wir uns bitterlich
leiden sehen.

O sagt mir, ist es denn Pflicht, an
ein Unseliges zu glauben, dem wir »nicht
wehren können«? Muss denn allimmer
ein Etwas, das ausserhalb unseres Wesens
wie ein Kondor flattert, an unseren Trüb-
nissen die Schuld tragen? Oder ist es
nicht männlich - menschlicher — darum
auch weiblicher im schönsten Sinne —
trotz Wunden und Thränen die Kümmer-
nisse rundweg zu leugnen und nur die
anerzogene Begrenztheit des Blicks, den
altererbten Augenflor, sich selbst also,
nur sich selbst, für diesen Schmerz der
Tage verantwortlich zu machen? Zum
mindesten müsste ich dann, ich Fremd-
ling meiner Seele, was wohl der edelste
Triumph dieser Seele wäre, das so ent-
würdigende Mitleid mit mir selbst verlieren.
Ich würde mir das Leiden als etwas sehr
Organisches, Gebürliches, zwar Krank-
haftes, doch körperlich und seelisch In-
haerentes von Herzen gönnen. Denn wenn
der grosse Schmerz der Welt nur in mir
selber liegt, und rings das Leiden der
tausendfältigen Creatur nur eine Täuschung
meiner Sinne ist, die noch nicht frei sind
von falben Floren, weil sie zu arcadischer
Klarheit sich noch nicht durchzuringen
vermocht, — dann ist der Schmerz nur
eine lächerliche, doch logische und theo-
retische Nothwendigkeit, die von meiner
Unreife verschuldet wird, oder, mit anderen
Worten: er ist die verlogene Spiegelung
meiner Innenwelt, die mit der königlichen,

so herrlichen Willkür des Lebens nichts
gemein hat, oder, bildlich gesprochen:
er ist der dumpfe Qualm eines Herd-
feuers, das flach und ohne Flamme in
meiner Seele schwelt und an der Enge
dieser Seele leidet. Vielleicht also gibt es
keinen Schmerz der Aussenwelt? O, dieser
Zweifel hat Trost in sich. Er birgt eine
Religion, die viel erlauchter und edler ist
als all die Lieblichkeit des nazarenischen
Jenseits. Denn dieses Jenseits läge in uns
selbst. Und da es Pflicht des Menschen
ist, stets schmerzloser zu werden, wird
er sein trübes Auge nur stetig ent-
floren
müssen, um sich sein Himmel-
reich durch Selbstzucht zu gestalten und
also sacrosanct zu werden. Drum müsste
er ruhig nach innen lauschen und seiner
Genesung harren, statt fruchtlos, lärmend
und ohne Anmuth zu gestikulieren. Und
müsste nur lange an seinen Trieben ar-
beiten, bis dieser organisch verwobene
Weheflor so Stück wie Stück geschwunden
und durch sein stückweises Schwinden dem
rosenfingrigen Licht die unbehinderte
Reflexfläche zurückgewonnen. Und nament-
lich: da er sich dann nicht mehr als die
getretene Creatur, die verwaiste im Welten-
raume, die willenlos zerzauste und unfrei-
willig gepeitschte, vorkommen könnte,
müsste er zu dem fruchtbarsten Lachen
über sich selbst gelangen, den Schein
der eigenen Hilflosigkeit, der suggerierten
Armseligkeit verspotten, den Eigenjammer
verhöhnen, allmählich auch verscheuchen
— und so das freieste Verhältnis zu
Welt und Selbst gewinnen; ein Verhält-
nis, das von Härte und Selbstsucht gleich
weit, ja himmelweit entfernt wäre. Und
dieses Lachen würde in anderem Betracht
die kräftigste Emotion, die mächtigste
und vielleicht auch anmuthigste Innen-
bewegung auslösen. Und wiederum käme
die Seele ins Athmen. Und wiederum
wäre ihr Hauch wie Melodie, die ehern
in den Lüften klingt, wäre ihr Tanz, ihr
Ton wie Flügelschlag, der stählern über
Meere setzt. Und Leid wär’ Lied, wie
ehedem — doch ränne der Wein dann
wohl aus Thränen, die nur der Nieder-
schlag des göttlichsten Frohlockens wären.

Weint, weint, Geliebte, — all unser
Hellas ist dahin. Wo sind sie hin, die
Unverbrauchbaren? Wo ist die Kraft und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 306, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-13_n0306.html)