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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 310

Text

JACOBSEN: JÜNGLINGE.

barkeit, das bewusste Liebesgefühl, bei
den noch völlig keuschen, in klösterlicher
Reinheit aufgewachsenen Jünglingen ein-
tritt. Die Helden des in dramatischer Form
gehaltenen Werkes — denn einen ein-
zelnen Helden gibt es nicht — sind (wie
der Verfasser selbst es war, als er sein
Werk concipierte) Zöglinge in einem streng
katholischen Gymnasium. Solche Zöglinge
sind wohl nicht Mönche im eigentlichen
Sinne des Wortes, aber Pfaffengerede und
künstliche Dogmen haben sich dermassen
über ihr Leben aufgethürmt, dass ihnen
das »Ewig-Weibliche« ein Buch mit sieben
Siegeln ist. Im Augenblicke, da sie aus
dem Collegium heraus sollen, da sie die
freie, schöne Welt für sich offen sehen,
bricht das verhaltene Jugendfeuer wie ein
Vulkan hervor. Alles in ihnen will die
Fessel sprengen, alles sprüht und glüht, —
es ist eine Walpurgisnacht der Lebens-
freude, in deren heisser Atmosphäre per-
lender Wein schäumt, feurige Küsse brennen,
junge, beflügelte Worte blitzen und zünden.
Hochfliegende Pläne fürs Leben, beissende
Satiren gegen die verschimmelte Weisheit,
die man ihnen bisher beigebracht, schwär-
merische Erotik und Ausdrücke derber
Sinnlichkeit lösen einander ab in diesem
glänzenden Feuerwerk. Diese Jünglinge
sind alle sehr mundlaut; niemand schweigt,
niemand behält seinen Lebenstraum für
sich, alles, was im Herzen schwillt, quillt
auf die Lippen, wird hinausgesungen,
hinausgeschrien, hinausgetanzt.

Man höre nur, was sie bei festlichem
Gelage improvisieren:

»Zwanzigjährige Burschen ohne Mäd-
chen! Unsere Glieder schwellen und bäumen
sich, das Leben quillt in unserer Brust,
das Blut siedet wohllüstig in unseren Adern,
und wir — wir sollen wie Eunuchen in
Betrachtung unseres Nabels hingesunken
stehen? Auf, Gefährten, auf zur Jagd!

Mädchen siechen hin wie kranke,
schmachtende Blumen im Treibhause, das
zarte Roth der Wangen schwindet, die
Glut der schlanken Glieder zehrt sich selbst
auf — machen wir dem ein Ende! Pressen
wir sie in unsere starken Arme, hüllen
wir sie ein in die Musik unserer Liebes-
worte, machen wir sie unter unseren Küssen
erbeben. Auf, Gefährten, auf zur Jagd!

Draussen flutet und glänzt die Sonne
— der frische Hauch zittert von Liebes-
geflüster, der junge Zephyr ist feucht von
Küssen — die leichtfüssigen Mädchen
fliehen, um verfolgt zu werden. — Auf,
Gefährten, auf zur Jagd!«

In der ganzen Dichtung, die sonst in
Prosa geschrieben ist, finden sich solche
Ergüsse metrischer Prosa, die etwas an
die Horaz’sche Art erinnern. — Sehr
übermüthig philosophieren die Jünglinge,
indes der Wein ihr Gehirn zu umgaukeln
beginnt. Hier eine Probe:

Ein Student (den Pfaffen nachäffend):
Ach was — das Paradies! Wir wollen
nichts vom Paradies! Das Leben ist so
schön! Es passt uns so herrlich, in der
freien Welt wie die Sperlinge herumzu-
flattern, ein gutes Glas Wein in der
Schenke zu trinken und mit einem drallen
Dienstmädchen zu schäkern!

Ein zweiter: Ich möchte wohl eine
grosse Reise machen — aber nicht gerade
die in die andere Welt!

Ein dritter: Und doch müssen wir
einmal alle sterben!

Camillo: Liebe Freunde — für mich
hat der Tod einen eigenen Reiz. Ich
brenne darnach, bei meinem eigenen Ver-
schwinden zu assistieren!

Der zweite: Eine Überraschung
wäre es jedenfalls!

Camillo: Wie herrlich dann alles in
nichts zerfliessen würde! Der Raum, die
Materie, die Zeit — was hätten wir dann
noch zu thun?

Der erste: Wir hätten uns jeden-
falls einen neuen Schneider zu suchen.

Camillo: Wir würden nur eine leise
Sensation des grossen Universums sein,
das eben existiert, weil es zu existieren
glaubt.

Der zweite: Also trinken wir — denn
dann trinken wir nicht mehr! Lieben wir
— denn dann lieben wir nicht mehr!
Alles ist dann zu spät! Wir werden an-
nulliert sein wie falsches Papiergeld.

Der dritte: Es lebe also jetzt die
Materie! Evviva!

Materella: Die Materie, die uns im
grossen Universum anlacht — vom leuch-
tenden Stern bis zu unserer gemeinen
Welt — von unseren hoheitsvollen Bergen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 310, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-13_n0310.html)