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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 311

Text

JACOBSEN: JÜNGLINGE.

bis zu unseren tiefen Seen und weiten
Thälern; die Materie, die uns in dem
perlenden Wein schäumt und in den
Küssen der Mädchen brennt, die Materie,
die sich durch tausend geheimnisvolle
Schwingungen in frisches, farbiges Fleisch,
in wallendes Blut, in denkende Zellen
wandelt! Evviva!

Diese Jünglinge, diese jungen Bacchan-
ten, die nichts mehr oder nichts weniger
wollen, als all das Schöne und Gute, das
die Erde bietet, mit enormem Lebens-
appetit auf einmal verschlingen, enden
zuletzt, nachdem sie alle Phasen der Liebe
und der Illusionen durchgemacht, als tief-
gründige Philosophen, die dem Weltgeist
mehr, als gut ist, in die Karten blicken
und ihm seine Geheimnisse abzulauern
versuchen. Diese Phasen sind aber nur
symbolisch angedeutet — Raum und Zeit
existieren hier bald nicht mehr. Wie in
den alten Märchen bedeuten die Minuten
Tage, die Tage Jahre und Jahre ganze
Menschenalter. Der Dichter übersieht das
Menschenleben in seiner Steigerung zu
und in seinem Abfall von den Höhen, wie
aus der Vogelperspective; die Einzelfiguren
erscheinen klein, nur die Massen treten
hervor und bewegen sich in rasender
Fahrt. — Ein Liebeshandel und Liebes-
leben, eine grosse, ernste Symphonie der
Liebe wird uns vorgeführt, wo Schwärmerei
sich in Sinnlichkeit, Sinnlichkeit sich in
Ekstase, die wilde Lust sich zuletzt in
Gleichgiltigkeit und Härte verwandeln.
Und während die Jünglinge wie trunken
an den Brüsten des Lebens saugen und
aus den wilden Umarmungen zuletzt wie
bleiche Schatten ihrer selbst herauskommen,
fällt die lieblichste Jungfrau (eine Personi-
fication der Jugend) dem tückischen
Fatum zum Opfer, indem sie, da das
erste bebende Geständnis ihrer Liebe über
ihre Lippen kommt, von einem jähen
Felsen stürzt und den Tod findet. Lange,
nachdem die anderen jungen Heldinnen
in diesem Drama sich wilden Excessen
hingegeben — sie sind mit kühner Phan-
tasie in der Gestalt mystischer Natur-
erscheinungen, junger, schöner Hexen
(»Streghe«), verkörpert — stossen sie auf
den Leichnam der lieblichen Gespielin,
die von Hirten andächtig auf blumen-
geschmückter Bahre in die Erde gebettet

wird. Die Scene ist mit Maeterlinck’scher
Mystik und Kraft dargestellt.

Hier eine Probe, bei der ich indessen,
der Kürze halber, verschiedene Bruch-
stücke zusammenfüge, die mir besonders
charakteristisch erscheinen:

Es ist Nacht. Die Jünglinge irren
nach dem Besuch, den sie den jungen
Hexen auf dem Berge Cistella abgestattet,
im Gebirge umher.

Camillo: Fast wie der Schatten
eines Todten schleiche ich mich fort. Es
zittern mir die Glieder, meine Wangen
sind plötzlich fahl und voller Runzeln
geworden. Die feine, scharfe Luft der
Gebirge macht mein Blut erstarren!

Batticuore: Sieh unsere Gefährten,
wie verändert sie sind, wie schauderhaft
alt! Und auch Du, Camillo! — Siehst Du
nicht die langen, weissen Locken, die
von Deinem Haupte fallen?

Camillo: Siehe! Da kommen sie —
alle wie Schatten! Einige von der Lust,
andere vom Schmerz — aber alle von
einem wilden, unwiderstehlichen Triebe,
der ihr Innerstes wie Gift durchwühlte,
fortgetrieben.

Batticuore: Teufelei! Teufelei! Einige
von uns sind mondsüchtig, andere wie
vom bösen Geist besessen, aber alle
rennen sie umher gleich Verrückten!

Sine-Labie: Wie ist mir denn dieser
grosse Bart an Lippe und Kinn gekommen?
Gestern hatt’ ich ihn doch nicht! Hab’
ich hier seit gestern Abend vielleicht
Jahre verschlafen? — Teufelei!

Neue Jünglinge (aus dem Berg Cistella
von dem Besuche bei den Hexen kommend):
Uns friert!

(Hirten tragen die blumengeschmückte Bahre
Linas vorbei.)

Weiber (im Gefolge): Wie schön sie
war inmitten all der grünen Zweige! Das
kleine Zimmer, drin sie ruhte, strahlte
von ihr wie ein Paradies!

Ein Hirte: Ja, sie ruhte da inmitten
all dieser Blumen wie in einem weichen
Nest —

Ein anderer: Keine Spur von Blut
war zu sehen, keine Wunde. Es war,
als ob ihr nichts zuleid geschehen wäre.

Weiber: Bringt Blumen! Viele Blumen!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 311, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-13_n0311.html)