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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 312

Text

JACOBSEN: JÜNGLINGE.

Junge Mädchen (vom Cistellaberg
kommend, mit wüstem Aussehen und fliegen-
den Haaren): Was bedeutet das?

Rina (eines der Mädchen): Was es be-
deutet?

Die Mädchen: Ja, das da — das
dort vorbeigeht —

Rina: Es ist unsere Jugend.

Maria: Unsere Jugend? Kaum erin-
nere ich mich ihrer mehr!

Teresa: Doch — ich hab’ sie ein-
mal gesehen — einmal vor langer Zeit —
aber gleich darauf war sie verschwunden,
gleich stahl man sie mir weg.

Rina: Versteht Ihr nicht? Das da
(auf die Bahre deutend) ist unsere Jugend,
die sie begraben — — —

(Eine graue, gespensterhafte Gestalt kommt
aus der Finsternis hervor.)

Rina: Wer bist Du?

Die Gestalt: Ich bin das Ende —
ich bin das Dunkel — starre in mich
hinein! Verhülle Dein Angesicht mit
Deiner Schürze! Komm’, stürze Dich in
meinen Schoss!

Rina: Ich will leben!

Die Gestalt: Du musst mir folgen!

Rina: Nein, ich kann nicht vom
Leben scheiden! Ich und das Leben sind
eins — ich kann nicht von mir selbst
scheiden!

Die Gestalt: Folge mir! (Führt sie fort.)

Rina: Das Leben!

Stimmen des Echos: Das Leben!
Das Leben!

(Die Jünglinge lauschen.)

Materella: Was war das? Wer hat
geschrien?

Archia: Es war eine, die das Leben
anrief.

Camillo: Es war die schmerzerfüllte
Stimme eines Weibes. —

Die Neuankommenden (aus dem
Berge Cistella): Uns friert! — —

Die mystische Handlung bewegt sich
jetzt rasch vorwärts. In der wilden Liebes-
nacht, die symbolisch das ganze Liebes-
leben darstellen soll, werden die einzelnen,
die Individuen, furchtbar getäuscht und
zerstört, die wilden Naturmächte aber,
die entfesselten Triebe — in den dämoni-
schen Schönen personificiert — rasen mit
Ungestüm.

Die jungen Hexen (nachts auf dem
Cistellaberge umhertanzend): Sieh’ da, der
keusche Mond birgt sich schamhaft
hinter den Wolken, und wir, die dunklen
Priesterinnen der Wohllust, flattern sehn-
süchtig umher auf Berg und Thal und
spähen nach schönen Menschenjünglingen.
Ach, wie werden wir sie in unsere Arme
schliessen! Aber wie bald ändert sich alles!
Der grosse Mann, der an unserem Busen
ruhte, verlässt uns — und lässt uns einen
kleinen zurück! Trauriger Tausch!
— Aber nachher fliegen wir durch die
weite Welt und verbreiten diese Spröss-
linge der Hexen und Studenten überall —
wir legen sie sogar an die Seite der
schläfrigen Gattin den Männern ins Ehe-
bett — und dann kehren wir, freie Töchter
des Windes, nach dem Cistellaberge zurück
und tanzen, tanzen mit fliegenden Haaren,
nackt im Mondenschein auf den Gipfeln!

Die Symbolik ist hier sehr dreist und
erinnert stark an Ibsens »Per Gynt«, wo
ein kleines Teufelchen, die Frucht der
unseligen Liebschaft mit der »Grüngeklei-
deten«, den Helden überfällt und ihn »Väter-
chen« nennt. — Ich muss aber hier be-
merken, dass Venanzio von Ibsen absolut
nichts wusste, als er sein Drama schrieb.

Bald füllen viele bange, schreiende
Kinderstimmchen den Raum — es ist
ein leises, aber unheimliches Wimmern
und Klagen. »Vater!«, »Mutter!« klingt
es flehend aus tausend Mündchen. Und
sie hungern, diese Kleinen, sie dürsten
nach der Mutterbrust. Niemand hört sie
in der Öde! — Und ihre Anzahl wächst
und wächst — überall wimmeln sie her-
vor zu Tausenden. Überall schreit es
»Vater!«, »Mutter!«

Der ganze Schluss des Werkes ist
voll düsterer Angst. Die ächzenden Kinder-
rufe werden abgelöst von dem unheim-
lichen Seufzen der Jünglinge, die aus den
wilden Umarmungen kommen, von dem
ewigen: »Uns friert! Uns friert!«,
das zuletzt wie ein schauriger Refrain
des ganzen Dramas nachhallt. Rathlos
stehen die Jünglinge da. Der Genuss,
der Schmerz und die Enttäuschung haben
sie zu Männern gereift; und nun —
wohin? Wo können sie sich wieder selbst
finden? Welcher Weg fuhrt noch zum
Leben? Da erblicken sie in dem

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 312, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-13_n0312.html)