Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 317

Über Gustav Mahler (Graf, Dr. Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 317

Text

GRAF: ÜBER GUSTAV MAHLER.

Meinungen, Schwärmereien, Leidenschaf-
ten; kein Actenfascikel oder Dirigier-
Beamter. Eine innerlich und äusserlich
bewegte Natur, die, ob sie in ihrem Bureau
oder am Dirigentenpulte sitzt, im Kaffee-
hause oder im Probesaale ist, mit stärkster
geistiger Energie haranguiert, befiehlt,
thätig, lebendig ist. Und überdies mit einer
reizenden Portion von, wie nenne ich es
nur höflich und gesittet sagen wir
je-m’en-fich’isme ausgestattet ist, die es
ihr erlaubt, als Autorität für jede künst-
lerische Forderung stets ihre Stellung auf
die Wagschale zu werfen.

Kein Wunder, wenn ein derart be-
wegtes Künstlertemperament den Drang
fühlt, auch selbständig productiv thätig zu
sein. Kein Wunder, wenn die Aufführung
seiner zweiten Symphonie, als eines
der interessantesten Ereignisse des Musik-
lebens, die Gemüther in Spannung, Unruhe,
Bewegung, Streit versetzt hat.

Ich sehe mich in die ein wenig beengte
Lage versetzt, das, was ich über dieses
Werk zu sagen habe, dem Clavierauszuge
zu entnehmen; dieser gibt wohl die thema-
tische Structur des Werkes wieder, allein
das Wesentlichste fehlt: die Klangwirkung.
Die letzten, tiefsten und psychologisch
wichtigsten Dinge, gerade die seelischen
Heimlichkeiten, sind in den innerlich ge-
hörten neuen Klängen enthalten. In dem
Bestreben der modernen Musiker, die
Farbenmittel des Orchesters zu vermehren,
liegt nicht die Tendenz nach äusserlicher,
sondern vertiefter, innerlicher Wirkung.
Es sind die groben Dinge der Seele,
welche sich in der Melodie sagen lassen;
die feineren, welche durch die Schattie-
rungen der Harmonie ausgedrückt werden;
die feinsten, welche sich im Klange trans-
figurieren. Die tiefsten Wirkungen der
modernen Musik sind in erster Linie
Klangwirkungen.

Als eminent modernes Werk charakte-
risiert sich die Symphonie von Gustav
Mahler vor allem dadurch, dass sie er-
lebte
Musik, nicht gemachte Musik ist.
Sie setzt zu ihrer Entstehung erst einen
ausserordentlichen Fonds von inneren
Kämpfen, Leidenschaften, von Blut und
Wunden voraus. Die Intensität ihres Lebens

ist ungeheuer. In vielen Theilen, vor allem
im ersten Satze, sind Töne, die bluten
würden, wenn man sie aufschneiden würde.
Mit einem treffenderen Ausdrucke: des
tons, qui crient. In diesem Werke sind die
Stationen eines inneren Kampfes um die
Auferstehungsidee Musik geworden. Dies
klingt vielleicht im ersten Momente fremd:
allein ich möchte im Vorübergehen darauf
aufmerksam machen, dass — freilich aus
anderen Gefühls- und Anschauungskreisen
heraus — ähnliche innere Kämpfe Bach
zu seinem »actus tragicus« musikalisch
gestaltet hat. Freilich muss man es
erst lernen, Bach’sche Musik als erlebte,
nicht als gemachte Musik zu hören.
Stärker noch als die Intensität der Musik
ist die Besonnenheit, mit welcher das
Ganze zu fünf abgeschlossenen Theilen
gebändigt ist. Der erste und letzte Theil
entsprechen sich wie Rede und Gegen-
rede. Es sind innere Beziehungen, die sie
verbinden. Das Andante con moto, das
dem ersten Satze folgt, hat man mit
Unrecht der Volkmann-Serenade an die
Seite gestellt. Trotz seiner innigen Ein-
fachheit gehört es der höchsten Form
erlöster Heiterkeit an. Ebenso ist das
folgende dionysische Scherzo, trotz seiner
Klarheit und übersichtlichen Simplicität,
ein durchaus transcendental-heiteres Stück.
Der vierte Theil, ein ergreifendes und
inniges Altsolo, »Urlicht«, bereitet im
höchsten Grade mysteriös die heilige
Wandlung des Auferstehungsgedankens
vor. Der letzte Theil führt von Stufe zu
Stufe bis zum Siege des Auferstehungs-
gedankens, welchen der Chor mit den
Worten des Klopstock’schen Chorales
»Aufersteh’n, aufersteh’n wirst Du« ver-
kündet. Der beste Beweis für die inner-
liche Kraft, mit der das ganze gestaltet
ist, liegt darin, dass der Künstler gerade
diesen Schlusstheil ohne äusserliche Ton-
malereien, etwa des jüngsten Gerichtes,
ganz als seelischen Vorgang gestaltet hat.
Der Hörnerruf des Predigers in der Wüste
— der gekommen ist »auf dem Gefilde
eine ebene Bahn dem Herrn« zu bereiten
(Jesaias 40. 3) — und die vier Trompeten
der Engel, welche aus den vier Weltge-
genden die Auserwählten sammeln (Ev.
Matth. 24. 31), klingen gleichsam aus
der Ferne in die Musik hinein, bis sie

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 317, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-13_n0317.html)